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Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Charlton
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herein, Amadi.«
    Langsam öffnete sich die Tür und eine sanfte Frauenstimme sagte: »Wie ich sehe, sind die Gerüchte über die Blindheit des alten Magisters Shannon maßlos übertrieben.« Die Tür fiel ins Schloss.
    Lächelnd erhob sich Shannon. »Alt? Jedenfalls bin ich noch nicht so ein Fossil, als dass ich deine spitze Zunge vergessen hätte. Komm und umarme deinen uralten Lehrmeister.«
    Mit jahrelanger Übung fand er den Weg um seinen Schreibtisch herum. Amadi näherte sich mit leichten, zögerlichen Schritten. Doch dann schloss sie ihn in die Arme und drückte ihn kräftig. Er hatte ganz vergessen, wie hochgewachsen sie war. »Aber die Gerüchte sind wahr«, sagte er und trat einen Schritt zurück, »ich bin so blind wie ein Grottenolm.«
    Sie schwieg einen Moment. »Ihr seht aber nicht so aus, als wäret Ihr schon in dem Alter, in dem man sein Augenlicht verliert.«
    Freudlos lachte er. »Dann sollten wir uns eher um deine Augen sorgen. Ich habe nämlich schon fast mein zweites Jahrhundert hinter mir.«
    »Magister, ich wäre bitter enttäuscht, wenn es bloß das Alter wäre, das Euch das Augenlicht geraubt hat«, neckte Amadi ihn, wie sie es schon als junges Mädchen getan hatte. »Ich habe Geschichten, vielmehrLegenden, darüber gehört, wie Ihr Euer Augenlicht im Spirischen Bürgerkrieg verloren habt, als Ihr verbotene Schriften last oder mit flammendem Bart gegen zwanzig Söldnerschreiber gekämpft habt.«
    Bislang war Shannons gute Laune nur aufgesetzt gewesen, doch nun musste er wirklich lachen. »Die Wahrheit ist wesentlich profaner.«
    »Aber Ihr wirkt gar nicht so alt.«
    »Du bist schon immer sehr stur gewesen.« Wieder lachte er und schüttelte dabei den Kopf.
    In Astrophell hatte Shannon sich mächtige Leute zu Feinden gemacht; sie könnten ohne weiteres einen Spion unter die Gesandten geschleust haben. Daher stellte jeder Zauberer aus Astrophell eine mögliche Bedrohung dar; doch trotz dieser Gefahr genoss er das Gespräch mit seiner ehemaligen Schülerin, genoss die Erinnerung an sein altes Leben.
    »Amadi, in fünf Jahren fange ich mit dem Ghostwriting an«, scherzte er. »Gib dir also keine Mühe, mir wegen meines jungen Aussehens zu schmeicheln; das erinnert mich nur daran, dass du im Vorteil bist. Leider ist mein Schutzgeist nicht zugegen, um dich für mich anzuschauen. Und ich bin neugierig nach all den Jahren, die wir uns nicht gesehen haben … wie viele sind es jetzt genau? Fünfzig?«
    Auf leisen Ledersohlen schlich Amadi über den Boden. »Eure Hände dürfen mich sehen«, sagte sie und war ihm auf einmal ganz nah.
    Damit hatte er nicht gerechnet. »Das …« Seine Stimme erstarb, als sie seine Hände ergriff und auf ihre Stirn legte.
    Beklommenes Schweigen.
    Mit den Fingerspitzen fuhr Shannon über die leichte Wölbung von Amadis Brauen, die tiefliegenden Augen und zur hervorspringenden Nase empor, glitt sanft über die geschürzten Lippen und das schmale Kinn.
    Aus dem Gedächtnis fügte er die Farben hinzu: elfenbein der Teint, nachtschwarz das Haar, wasserblau die Augen. In seinem Geiste vereinten sich Berührung und Erinnerung zu dem Bild einer blassen Zauberin mit dünnen Locken und ausdruckslosem Gesicht.
    Shannon schluckte. So hatte er sich die Begegnung mit einer altenSchülerin nicht vorgestellt. »Du musst auch schon das ein oder andere weiße Haar haben«, rutschte es ihm heraus.
    »Nicht nur das ein oder andere«, sagte sie und trat beiseite. »Verratet Ihr mir, wie Ihr mich durch die Tür erkannt habt?«
    »Nun, da ich meine natürliche Sehkraft verloren habe, durchdringt mein magischer Blick die irdische Welt und erkennt Zaubertexte. Durch die Tür habe ich deine zusammengesetzten Wortgebilde erkannt.«
    »Ihr erinnert Euch noch an meinen Schreibstil?«
    Er zuckte die Achseln. »Außerdem fiel dein Name im Gespräch mit Gesandten aus Astrophell. Ich habe also damit gerechnet, dass wir uns früher oder später über den Weg laufen werden. Das ist nun früher als gedacht.«
    »Magister, ich möchte gerne mit Euch …«
    »Nenn mich einfach Agwu«, unterbrach er sie. »Oder Shannon – so nennen mich die Freunde, die meinen nordischen Vornamen nicht aussprechen können.«
    »Ich glaub, das kann ich nicht«, sagte sie und kicherte los. »Wisst Ihr noch, wie Ihr mich und die anderen Akolythen erwischt habt, als wir nicht in unseren Betten lagen? Wie kann ich Euch mit dieser Erinnerung im Kopf Shannon nennen?«
    Er stimmte in ihr Gelächter ein und begab sich zurück zu

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