Nicodemus
an seinen Schülern vergriffen. Sofort kam ihm Nicodemus in den Sinn. Der Junge war nicht der Halkyon, das hatte seine Kakographie deutlich gemacht, doch Shannons Feinde in Astrophell hatten seinen Namen vielleicht einmal gehört und ihn als Zielscheibe auserkoren.
Oder – diese Möglichkeit war zwar wesentlich unwahrscheinlicher, dafür aber umso beängstigender – der Junge verfügte über eine unbekannte Verbindung zur Prophezeiung des Erasmus. In diesem Fall stünde der Fortbestand aller menschlichen Sprachen auf dem Spiel.
»Habt Ihr Magistra Finn gekannt?«, fragte Amadi.
Shannon zuckte zusammen. »Wie bitte?«
»Habt Ihr Finn gekannt?«, wiederholte Amadi geduldig.
Shannon nickte. »Nora und ich haben uns beide um die Schüler des Speicherturms gekümmert. Als Hausvater bin ich für die häuslichen Angelegenheiten unserer Schüler zuständig. Nora überwachte als Dekanin die wissenschaftliche Ausbildung. Doch diese Schüler studieren nur sehr selten. Und die paar, die es schaffen, eine Zauberreife zweiten Grades zu erlangen, werden dann von mir betreut. Nora hatte nur sehr wenig Kontakt mit den Schülern. Wir waren für den gleichen Lehrstuhl im Gespräch. Rivalen, wenn man es so will.«
»Erzählt ruhig weiter.«
Shannon zögerte. Er wagte nicht, noch mehr preizugeben, solange er sich über Amadis Vertrauenswürdigkeit nicht im Klaren war.
Also tat er, was Gelehrte am besten können: Er fuchtelte hilflos mit den Händen in der Luft und begann zu jammern. »Das ist ja wohl der ungünstigste Moment überhaupt, jetzt mit dem Konzil. Wie soll man einen Mörder fassen, wenn hier alles durcheinander geht? Und meine ganze Forschungsarbeit! Ich kann das nicht einfach abblasen, gerade erst habe ich meinem Lehrling Aufträge erteilt.«
Amadi atmete vernehmlich aus. »Wie gesagt, wir hoffen, dass unsereNachforschungen den Verlauf der Verhandlungen nicht beeinträchtigen werden.«
»Wir? Aber Amadi, sollten sich nicht die Getreuen des Provost mit der Untersuchung befassen?«
Sie räusperte sich. »Provost Montserrat selbst hat mich mit der Untersuchung beauftragt.«
Shannon nestelte an seinen Ärmelknöpfen. »Warum sollte der Provost eine Zauberin aus Astrophell beauftragen, eine Untersuchung in Starhaven zu leiten?«
»Ich führe ein Empfehlungsschreiben des obersten Kanzlers mit mir.«
»An deinen Fähigkeiten zweifle ich ja gar nicht«, sagte er; doch ihren Absichten misstraute er schon.
Amadi sprach unbeirrt weiter: »Wir müssen die Untersuchung vor den Gesandten geheimhalten. Sie werden die Verträge nicht unterzeichnen, wenn sie Wind davon bekommen, dass hier ein Mörder …«
»Ja, Amadi, das sagtest du bereits. Aber warum kommst du damit zu mir? Die Getreuen des Provost hätten dir genau so gut von der Spindle Brücke erzählen können.«
Wieder knarrte Amadis Stuhl. »Habt Ihr einen Schutzgeist?«
»Ja, aber auch das haben wir schon geklärt.«
»Ich würde mir das Tier gerne einmal ansehen.«
Shannon nickte. »Gewiss. Azure überbringt meinem Lehrling gerade eine Nachricht und wird gleich zurück sein. Aber verrat mir eins Amadi, du untersuchst hier einen Mordfall, warum willst du meinen Schutzgeist sehen?«
Die Stille dehnte sich scheinbar endlos. Schließlich hub die Wächterin zu sprechen an und sagte mit leiser, kontrollierter Stimme: »Weil Ihr unser Hauptverdächtiger seid.«
Kapitel 5
Die weißgekleidete Gestalt sprang fast fünf Fuß zurück und duckte sich danach wieder.
Die Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegte, jagte Nicodemus Angst ein. Gerade wollte er aufschreien, da erhob sich die Gestalt, und als sie die Kapuze zurückschob, kam ein Frauengesicht zum Vorschein.
Im fahlen Mondlicht funkelten ihre großen Augen grün. Die glatte, olivfarbene Haut und das schmale Kinn hätten einer Zwanzigjährigen gehören können, doch der Ausdruck, der um diese jugendlichen Gesichtszüge spielte, zeugte von Reife und Selbstbewusstsein. Das üppige, rabenschwarze Haar fiel ihr in Wellen ums Gesicht und verschwand unter ihrem Gewand.
Nicodemus kam sie merkwürdig bekannt vor.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie streng. »Ich bin Deidre, eine unabhängige Emissärin der Druiden von Dral. Mir wurde zugesichert, dass ich mich während des Konzils in der Festung überall frei bewegen darf.«
»Entschuldigt, Magistra Deidre. Ich habe nicht gewusst, dass Ihr eine Druidin seid.« Er verneigte sich.
»Nenn’ mich nicht Magistra. Wir Druiden tragen keine Titel.« Ihre Stimme klang
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