Nie mehr Nacht (German Edition)
wirkte wie ein riesiger gelber Karton, nur dass er Türen hatte, höher als das Schiff.
»Trockendock«, sagte Lilith und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Da wird sie reingefahren, aufgebockt, auseinandergeschweißt. In zwei Wochen ist nichts mehr von ihr übrig.«
Der Kleinbus tauchte aus dem Schiffsbauch auf und kam an Land gefahren. Kurz stoppte er an der Glaskabine, in der der Arbeiter zu einem Backsteingebäude hinter uns zeigte. Der weiße Nissan fuhr weiter und kam auf uns zu.
»Jetzt muss ich adieu sagen. Wir fahren zum Hafenamt, die Kitty übergeben«, sagte Lilith. Sie nahm meinen Anorakkragen in die Hände und zog immer wieder daran. »Dann werd ich heulen. Und froh sein, dass es vorbei ist.« Der Van hielt. »Komm, ich stell dich kurz vor. Die vier haben uns hergebracht.«
Ich schüttelte Claude, Sébastian, dem Navigator und zuletzt dem Kapitän die Hand. Vier ältere, bärtige, hundemüde Männer beäugten mich aus einem Kleinbus, in dem ihr gefrierender Atemhauch stand.
Einer der beiden Maschinisten fotografierte mit einer kleinen Digitalkamera. Aus der Schiebetür heraus knipste er die Fähre, die gelbe Trockendockhalle, die Hafenkräne und die Weser mit ihren verlassenen weißen Ufern.
»Regarde!« Grinsend machte er ein Foto von Lilith und mir.
»Ich hab noch was für dich«, sagte ich zum Abschied zu ihr. »Ganz mit leeren Händen bin ich doch nicht gekommen.« Ich zog die drei Blätter aus der Innentasche, faltete sie auseinander und gab sie ihr. Die Kitty war darauf zu sehen, die Kitty an der Pier in Cherbourg, der kleine Traktor vor der Kitty , Danielle vor der Kitty , der offene Bug, das Heck, die Zwillingsschornsteine, eine Bullaugenreihe der Kitty .
»Mon dieu! Merci!« Sie strahlte. »Küsst du mich vor lauter fremden Männern? Küss mich bitte fest, fest, fest, fest.«
Dann stieg sie ein. Aber bevor ich die Tür zuschob und sie weg war, zog sie mir noch ihre Mütze über den Kopf.
19
Ü ber die Lombardsbrücke brandete in Richtung Esplanade und Planten un Blomen der Nachmittagsverkehr des warmen Frühsommersonnabends, und durch die Glasfront des Cafés sah man auf der Außenalster Optimisten und Jollen; da waren hunderte Segelboote. Ein Alsterdampfer, offenbar ein sehr alter, vielleicht ein Museumsschiff, fuhr zwischen den kreuz und quer dahingleitenden Segeln hindurch und drückte schließlich seine Rauchsäule unter einen Bogen der Kennedybrücke. Der weiße Qualm puffte herauf, hüllte die Brückenmitte kurz ein und verschwand dann im Blau des Lichts und der Luft, während der Dampfer schon auf der Binnenalster war und auf den Jungfernstieg zuhielt.
Das Café in der Galerie der Gegenwart leerte sich. Das Büfett war vertilgt, die Gespräche waren geführt, die Ausstellung der prämierten D-Day-Dokumentation in St:art war bewundert und beklatscht worden. In Hamburg regnete es dreihundert Tage im Jahr. Die Leute wollten an die Elbe, es war Cabriowetter.
Mein Vater schob sich ein letztes Schnittchen in den Mund. Geduldig lauschte er mit einem Ohr Kevin Brennicke, der ihm am Büfett jeden Fluchtweg versperrte, um eine Suada wer weiß wovon auf meinen alten Herrn niederregnen zu lassen. Kevin lachte, knuffte ihn auf den Oberarm, und mein Vater blickte diesen Erfolgsmenschen von unten herauf an und zog bis an die Obergrenze seines Amusements einen Mundwinkel in die Höhe.
»Ich erzähl grad von Peru!«, rief Kevin so laut, dass die beiden schwarz gekleideten Kellnerinnen, die die Tische abräumten, die Augen verdrehten, ehe sie zu feixen begannen. »Solltest du dir durch den Kopf gehen lassen. Man sieht so was nicht alle Tage, alter Muffel!«
Ich hob eine Hand, schickte ein Lächeln hinüber und nippte an der lauwarmen Plörre in meiner Kaffeetasse. Der Dampfer hatte den Anleger am Alsterpavillon fast erreicht. Von der vier Stockwerke hohen Fontäne auf der Binnenalster in der Mitte zerschnitten, drosselte er das Tempo. Die stotternde Qualmsäule über dem Schornstein löste sich in Luft auf. Gegen das blendende Licht blickte ich den Ballindamm hinunter, von wo sie kommen mussten, doch da waren nur lauter Fremde.
Nana und die Kinder holten den fehlenden Brennicke ab. Gefolgt von meinem Vater, eilte Kevin zu mir an mein Fenster, umarmte mich und sagte, er würde nicht lockerlassen. Die kleine Naomi kam angeflogen. Sie ähnelte erschreckend ihrer Mutter, auch wenn Nana anderthalb Meter zu groß war, um noch der Länge nach Kevins Bein zu umklammern. Mit dem Mädchen am
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