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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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ansiehst, les ich in deinem Gesicht. Da steht die ganze Geschichte, und du musst nicht alles erzählen.«
    Es war eine dreiunddreißig Jahre alte, seit dreiunddreißig Jahren Tag für Tag neu verschüttete Geschichte. Niemand außer uns kannte sie, und seit Iras Tod war ich der Einzige.
    Wann hatte es angefangen?
    Ich gab keine Antwort, schüttelte den Kopf. »Sagte ich doch – in Bournemouth.«
    »Markus, hast du nach Bournemouth oder vor Bournemouth zum ersten Mal mit ihr geschlafen?«
    Spielte das eine Rolle? Ich konnte Liliths Gedanken sehen, sie huschten ihr durch den Kopf, flitzten über die Augen, die tatsächlich in meinem Gesicht zu lesen schienen. Geschlafen – so richtig miteinander geschlafen? Das letzte Mal vielleicht acht Monate vor ihrem Tod. Aber es war nicht gegangen, war nur der Abschied ihres Körpers von meinem gewesen. Und das erste Mal? Das Bett war das Bett gewesen, das Zimmer das Zimmer. Der Flur war der Flur, die Treppe die weiße Treppe, und wir waren noch Kinder gewesen.
    »Dreizehn, vierzehn waren wir«, sagte ich zu Lilith. »Es war ein, zwei Jahre vor Bournemouth, genau weiß ich es nicht mehr und will’s auch gar nicht wissen.«
    Die Tür war die Tür, und sie war zu. Sie war fest geschlossen, so wie das Fensterauge der Garage, verschlossen und mit nichts aufzukriegen, wie das Bullauge in der Story von Ernest Hemingway. Bloß einen Sprung brachte der Wracktaucher dem Glas bei, als er unter Wasser mit dem Schraubenschlüssel dagegenhämmerte. Und hinter dem Bullauge, im Innern des Dampfers, der schon voll Wasser gelaufen war, sah der Taucher eine ertrunkene Frau. Ihr Gesicht war ganz nah, so nah wie Liliths meinem. Sie trieb im Wasser, und ihre Haare fluteten nach allen Seiten.
    »Bournemouth«, sagte ich wieder. »Als sie schwanger wurde und aus Israel zurückkam, überlegte sie eine Zeit lang, ihr Kind nicht in Hamburg zur Welt zu bringen, sondern in England.«
    »In Bournemouth.«
    »Ja. Aber sie ging nicht nach England. Plötzlich hatte sie das Geld für ein Haus und fand eins in einer ruhigen Hamburger Gegend. Dorthin zog sie mit dem Kind. Während Jesses Vater, der Mann aus Tel Aviv, nach Südengland ging.«
    »Nach Bournemouth?«
    »Ich hielt das dreizehn Jahre lang für einen Zufall. Sie sagte, es sei einer, ein Zufall – die Sprache der Welt! Manchmal dachte ich, sie hat diesen Mati vielleicht schon damals kennengelernt, als Teenager auf der Sprachschule. Achtzehn Jahre lang reiste sie von einem Land ins nächste. In Netanja oder Tel Aviv traf sie ihn vielleicht wieder, wurde schwanger von ihm, sie trennten sich, und er ging nach Bournemouth, weil er die Stadt kannte.«
    »Und weil sie die Schwesterstadt von Netanja ist«, sagte Lilith. »Es gibt viele Israelis in Bournemouth. Es gibt eine Synagoge. Danielle kennt den Rabbiner und seine Frau, sie sind ein paarmal mit der Kitty gefahren.«
    Ich wusste, dass Netanja in Israel die Schwesterstadt von Bournemouth in Dorset war, und meine Schwester Ira hatte es ebenso gewusst, beide Städte hatte sie gut gekannt.
    »Du weißt doch, mein Beruf ist die Sicherheit an Bord«, flüsterte Lilith. »Aber manchmal wäre ich viel lieber für die Unsicherheit und den Zweifel zuständig.« Sie küsste mich auf den Mundwinkel. »Sag mir doch bitte, was dich so quält.«
    Ich drehte mich von ihr weg und lauschte auf die Geräusche des alten Fährschiffs, das zum letzten Mal über ein Meer fuhr. Ich hörte, wie das Wasser an der Bordwand entlang heckwärts strömte und wie die Dieselmotoren unten im Rumpf stampften, den ganzen hundertsiebenundvierzig Schritte langen Schrotthaufen hörte ich dröhnen und ächzen. Und ich hörte Lilith. Anfangs war ihre Stimme wie Iras gewesen, genau gleich, doch inzwischen kam es mir so vor, als hätte ich vergessen, wie es war, Ira zuzuhören. Wenn Lilith etwas sagte, hörte ich nur noch sie.
    »Du glaubst, dass sie dich belogen hat«, sagte sie, »die ganzen Jahre, ist es das?«
    Sie strich mir durchs Haar, streichelte meinen Kopf, küsste mich, küsste mich auf die Schläfe und die Ohrmuschel, so lange, bis ich … irgendwann schlief ich ein.
    Wir fuhren an den Ostfriesischen Inseln vorbei durch die Deutsche Bucht – Baltrum sahen wir, Langeoog, Spiekeroog, Wangerooge. Diesiges Morgenlicht stand über der Wesermündung, und so weit man blicken konnte, lag auch die norddeutsche Küste unter einer dichten Schneedecke.
    Ich half, die übrigen Brote auf drei Teller zu verteilen, je einen für die Brücke,

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