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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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mit Alufolie abgedeckte Pappteller, eine Thermoskanne, Wasserflaschen und Plastikbecher standen, war der Raum leer. Er erinnerte mich an die Zimmer im L’Angleterre , auch wenn es dort große Fenster gab anstatt eines Bullauges, das sich selbst mit einem Schraubenschlüssel nicht würde einschlagen lassen.
    »Tapas und Salate von Danielle.« Lilith nahm vier Teller und Becher und zwei der Flaschen. »Die anderen warten. Ich bin der Essenslieferservice für Brücke und Maschinenraum! Nur darum haben sie mich mitgenommen, weißt du.«
    In zwanzig Minuten wollte sie zurück sein. Ich sollte mich ruhig etwas hinlegen, mich aufwärmen.
    Ich hatte es mir schon gedacht, aber jetzt wusste ich, sie machte diese letzte Fahrt nicht um der alten Zeiten willen, der Kitty -Jahre, sondern einzig meinetwegen.
    »Du sahst so verloren aus, und was mir Annik von dir erzählte, hat mir Angst gemacht. Außerdem hat man nicht jeden Tag die Chance, jemanden nach Haus zu bringen, oder?«
    »Und wenn ich nicht mitgekommen wäre, wärst du dann allein durch das dunkle Schiff gegeistert?«
    Sie stand in der Kajüttür und überlegte. Ich sah, sie stellte sich vor, in diesem Augenblick allein zu sein.
    »Wahrscheinlich hätte ich versucht, dich zu vergessen. Und wie ich mich kenne, wär’s mir geglückt.«
    An Calais kamen wir so nah vorbei, dass man im Abendlicht die vom Schnee weißen Dächer sah. Die Stadt und ihr Hafen waren hell erleuchtet. Über einer Straße, die zum Wasser hinabführte und dicht befahren war, glitzerten Lichterketten, Sterne, Kometenschweife, Wegweiser für Weihnachtseinkäufer. Das Bullauge war gerade so groß, dass wir Schulter an Schulter hindurchblicken konnten.
    Calais und der Ärmelkanal blieben zurück, aber wir sechs auf der Kitty dampften hinaus auf die finstere Nordsee mit Kurs Ostende und belgische Küste. Ich umarmte Lilith, und sie bat mich, sie festzuhalten, solange wir an Belgien vorbeifuhren, dann würde uns ein kleines Königreich für immer verbinden.
    »Ich bin nicht so gut in Romantik«, lachte sie und küsste mich mit so warmen Lippen, dass ich erschrak.
    Sie schmiegte sich an mich, und ich spürte, sie lebte, ihre Muskeln und Knochen, ihre Brust, ihr Bauch, ich schmeckte Liliths Speichel, roch ihren Atem, die Haut ihrer Halsbeuge, ich sah im Funzellicht der Kajüte den Glanz in ihren Augen und hörte es sie selber sagen: »Ich bin nicht tot, und du auch nicht, oder? Ich finde, du bist so lebendig wie ich.«
    »Ja, bin ich«, flüsterte ich. »Und ich bin hier.«
    Und Lilith sagte leise: »Du musst mir jetzt von euch erzählen, Markus. Damit sie endlich sterben kann, verstehst du?«
    Texel, Vlieland, Terschelling, Ameland, Rif, Schiermonnikoog, Simonszand, Rottumerplaat, Rottumeroog. In den Stunden nach Mitternacht passierten wir die Eilandkette vor der niederländischen Küste. Lilith hatte die Namen der Westfriesischen Inseln gegoogelt und auswendig gelernt. Wie man sie aussprach, wusste sie nicht, und es war ihr auch egal.
    Sie lag in meinem Arm, oder ich in ihrem. Wir hatten uns auf die Koje gelegt, zugedeckt mit der grünen Wolldecke. Auf Liliths Bauch lag die Taschenlampe, ich beobachtete ihren Lichtschein, wie er sich bewegte und manchmal zitterte, wenn sie atmete.
    »Bournemouth«, sagte ich.
    Und sie wiederholte es – »Bournemouth«. Aus ihrem Mund klang der Name harmlos.
    »Alles begann in Bournemouth. Am Anfang war Bournemouth. Sie war fünfzehn und ging nach England, um die Sprache zu lernen. Als sie zurückkam, war alles anders. Sie war völlig verändert.«
    Lilith fragte, inwiefern verändert, erwachsener?
    »Ihre Angst. Ihre Angst, Angst, Angst. Es gab nichts anderes mehr für sie. Ihre manische Angst und ihre Manie, eine Sprache nach der anderen zu lernen, bloß um nicht über sich und uns nachdenken zu müssen. Nichts sonst machte sie noch. Nächtelang saß sie auf dem Bett und lernte Französisch, Russisch, Italienisch, Spanisch, brasilianisches Portugiesisch.«
    »Und du?«
    Und ich. Lilith stützte sich auf den Ellbogen und sah mich an, ihr Gesicht so nah, als wäre es ein Teil, eine Fortsetzung von meinem oder umgekehrt.
    »Und ich – hab sie beobachtet, hab gewartet. Ich half ihr, fragte sie ab, beschwichtigte unsere Eltern. Ich war ihr Bruder, wie immer.« Ich drehte den Kopf weg, der voller Tränen war, die aber keinen Ausgang fanden.
    »Guck mich an«, flüsterte Lilith. Ihre Hand an meinem Kinn drehte mein Gesicht, drehte mich zu ihr zurück. »Wenn du mich

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