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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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den Rest wird regeln können.«
    »Red doch nicht so geschwollen daher«, sagte meine Mutter. »Wo soll denn da der Kompromiss sein? Wisst ihr, was ich am liebsten täte? Am liebsten würde ich ihm diese Reise gar nicht erlauben. Es ist zu früh. Ich halte nichts von seinem Freund. Der verstellt sich, ich sehe es ihm an. Und kennen wir diese Familie?«
    »Ruf sie an. Lad sie ein. Dann lernst du sie kennen«, sagte mein Vater. »Der Kompromiss. Ich erklär’s dir. Der Junge macht Schweres durch – ohne dass wir eine Ahnung haben, was wirklich in ihm vorgeht. Er will unbedingt in dieses Hotel. Du meinst, dass ihm das schadet. Markus fährt zufällig in die Nähe. Mein Vorschlag: Soll Jesse entscheiden, was er will und mit wem er fährt.«
    »Nichts als Verbitterung und Enttäuschung«, sagte meine Mutter und knallte das Messer auf den Tisch.
    Sie beklagte die vertane Zeit, seit sie sich hatte breitschlagen lassen, Vormundschaft und Erziehung des Jungen zu übernehmen. Kindswohlgefährdung, Inobhutnahme, Zwischenstation bei Kurzpflegeeltern, Eignungsfeststellung, Inaugenscheinnahme. Die Querelen mit dem Jugendamt, die Schnüffeleien während der Adoptionsanbahnung, wozu? Was war der Dank?
    »Ich wünschte, ich hätte kein Herz. Oder könnte mein Herz ausschalten, wie das Karen Lewandowski anscheinend kann. Wenn ein Pflegekind geht, kommt halt das nächste.«
    Mein Vater erinnerte sie unnötigerweise daran, dass Jesse ihr Enkel war. Er nahm das Messer. Er nahm sich eine Orange.
    »Wenn es nach dir gegangen wäre, würde der Junge heute in einer Jugendwohnung leben und könnte sich von seinem Sozialarbeiter mit Latzhose die Vorteile einer Methadonbehandlung erläutern lassen. Ich rede von Verbitterung und Enttäuschung«, sagte sie zu meinem Vater, »und du schälst dir dabei eine Orange und guckst zur Zimmerdecke, wie um irgendeine Statik zu berechnen.«
    »Na ja«, sagte er. »Ich hab das schon so oft gehört, Rebecca.«
    Als Jesse schließlich nach Hause kam, scheuchte sie ihn zunächst ins Bad, ehe sie ihn an den Tisch zitierte.
    »Dann los. Frag ihn«, sagte sie in einem so gehässigen Ton, dass Jesse mit zuckenden Wimpern vor uns saß und sie nicht aus den Augen ließ.
    Während ihm sein Großvater die Sachlage schilderte, balancierte Jesse sein Handy auf zwei Fingerkuppen über das Tischtuch.
    »Keine Ahnung«, lautete seine Antwort. »Aber Marky Mark«, sagte er dann, »der ist ja wohl eher im Alter von Niels’ Eltern.«
    Und ob er es wollte oder nicht, damit hatte er seine Entscheidung getroffen.
    Missmutig dachte ich zurück an diesen Sommerabend im Haus meiner Schwester. Jetzt war es das Zuhause meiner Eltern und ihres Enkels. Jetzt war es sechs Wochen später, und ich fuhr mit dem Jungen an Osnabrück, Münster und Hamm vorbei, Städten, in denen ich nie gewesen, durch die ich vielleicht einmal durchgefahren und von denen mir nur der Name im Gedächtnis geblieben war. Unser Krach auf der Raststättenbrücke schien Jesse ebenso nachzugehen wie mir der Streit meiner Eltern. Und so, wie ich in ihrer Stube nichts gesagt hatte, sagte er nichts zu mir.
    »Die haben so wunderschöne Augen, so dunkel glänzende, aufmerksame«, sagte meine Mutter am Telefon zu Herrn Juhl, als sie Vertrauen zu dem fremden Mann gefasst hatte und ihm von dem in ihrem Garten nistenden Wacholderdrosselpaar erzählte.
    Eine lange Zeit hörte sie dem Ornithologen zu.
    »Ja, wenn Sie meinen. Frühmorgens, bevor es hell wird, so früh also? Wir werden sehen«, sagte sie. »Das ist meinem Mann und mir jedenfalls noch überhaupt nicht in den Sinn gekommen.«
    Zum ersten Mal verstand ich, dass weder der mit dem Jungen getroffene Deal noch der mit meinen Eltern geschlossene Kompromiss etwas mit mir zu tun hatte, und schon wähnte ich mich dicht davor, eine Einzelheit zu entdecken, die ich anscheinend vergessen hatte und die alles Übrige erklärte. Am Steuer sitzend, sah ich mich mit Ira in demselben Zimmer, in dem ich mit meinen Eltern zusammengesessen hatte. Und mit einem Mal fiel mir die Einzelheit ein. Sie war peinlich, und ich schämte mich, dass sie mir offenbar doch nachging.
    Weder meine Eltern noch der Junge hatten ein Wort über meinen Auftrag verloren. Ich sollte in der Normandie Brücken zeichnen, für die sich vor siebzig Jahren Tausende hatten erschießen und in die Luft jagen lassen, hätte aber ebenso in einem Preisausschreiben ein Wellness-Wochenende in einem Hotel Spa bei Bayeux gewinnen können. Das hätte sie aufhorchen

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