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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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brannte, war nicht ihr Gesicht. Weder ihre Haltung oder Kleidung noch ihre schmale Statur war es, sondern dieser Helm mit dem dunkelroten Schriftzug darauf: KITTY . Er war das Einzige, das mich nicht an Ira erinnerte.
    Sie lehnte am Geländer der Rampe, über die Autos und Lastzüge mit meist britischem Kennzeichen von der Fähre rollten, und unterhielt sich mit zwei Arbeitern in hellblauen Overalls, einem jüngeren, einem älteren, die ebenfalls Sicherheitshelme mit der Aufschrift KITTY trugen, und sie wirkte wie eingekapselt in das Gespräch, wohl weil sie dessen Mittelpunkt war. Sie schien völlig unbehelligt vom Gellen der Möwen im Licht des so überraschend schönen Tages, vom Glitzern des Wassers und von den von Bord strömenden und ihre Mountainbikes an Land schiebenden Leuten. So stand sie da. So sah ich sie zum ersten Mal. So sehe ich dich also wieder, dachte ich, in Cherbourg am Ärmelkanal, mitten im Leben stehst du, mit zwei fremden Kerlen lachst du über irgendwas!
    Mit was für einem Leuchten im Blick. Du hast mir so gefehlt, ich kann dir gar nicht sagen, wie.
    Sie sah nicht aus, wie meine Schwester aussah, kurz bevor sie alles losgelassen hatte. Lilith sah aus, wie Ira vielleicht ausgesehen hätte, wenn sie nicht vom Leben, ihrem Körper, ihren Ansprüchen, ihrer Untauglichkeit und der Unfähigkeit ihrer Familie aufgerieben und zugrunde gerichtet worden wäre. Wo die Pier begann, standen auf der Mole Bänke, auf eine setzte ich mich, stützte das Gesicht in die Hände, und als ich das Weinen hinuntergewürgt hatte, sah ich der so vertrauten Fremden dort an dem Fährschiff fassungslos zu.
    Sie war in etwa so alt wie Ira, so groß wie Ira, so schlank, so fein, so herb, so reizend, so sehr Frau und dabei noch immer das Mädchen von irgendwann mal, wie auch Ira es gewesen war oder gewesen wäre, hätte sie sich nicht vollpumpen müssen mit Medikamenten und wäre nicht, vor Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren, hysterisch und panisch geworden, wäre nicht abgemagert und aufgedunsen in einem, hätte sich nicht gehenlassen, wäre nicht ungepflegt, stumm, mitleidlos allem und sich selbst gegenüber zu dem geworden, was sie wurde, ein verkümmerter Rest dessen, was wir kannten und liebten, ein bisschen Schwester, ein bisschen Mutter und Tochter, dann nur noch ein bisschen eines Bisschens.
    Wie sie selbst verkümmerte, ließ sie alles in ihrer Umgebung verkümmern. So war sie erst Freunden und Freundinnen, dann unseren Eltern, mir, Jesse und zuletzt auch sich selbst abhandengekommen. Wie war das möglich, dachte ich auf der warmen Bank über dem blinkenden Wasser. Wie kann es sein, dass so etwas überhaupt geschieht. Durch nichts und niemanden war es wiedergutzumachen.
    Dann sah ich, dass sie sich in Bewegung setzte, und war so erstaunt von der Natürlichkeit, mit der Lilith lachte und zugleich die Hände in die Anoraktaschen schob, dass ich aufsprang. Ich wandte das Gesicht zur Seite. Sie kam die Rampe herauf. Ich kehrte ihr den Rücken zu, die Augen zusammengekniffen, nur um sie im nächsten Moment weit aufzureißen, überzeugt, ertappt oder zumindest erkannt worden zu sein.
    Aber sie ging einfach vorbei. Zusammen mit den beiden hellblauen Arbeitern schlenderte sie in einem Tross aus Frauen und Männern in Borduniform oder Overall langsam über die Pier in Richtung Stadt. Die Crew der Kitty , wie das Fährschiff offenbar hieß, ging in die Mittagspause, so sah es aus, und auch ich hatte auf einmal ein Gefühl von unverhoffter Unterbrechung, von Pause in der mich auslaugenden Anspannung. Ich wartete eine Weile, dann folgte ich dem Pulk. Lilith hatte den Helm abgesetzt und hielt ihn schlenkernd am Kinngurt. Sie schüttelte ihr Haar. Sie trug es offen. Sie war blond wie Ira, bevor sie sich die Haare schwarz gefärbt und abgeschnitten hatte bis auf die Sichtschutzsträhne, und sie trug sogar ähnliche Jeans, dazu allerdings Sicherheitsstiefel. Einmal blickte sie über die Schulter die Pier entlang, und weil ich diesen Blick kannte und wusste, dass er viel mehr sah, als man meinte, tat ich, als wäre ich Vogelbeobachter, ein Seemöwenfreund.

8
    I ch folgte der kleinen Gruppe am Wasser entlang, dann hinein in die Straßen und Gassen des Hafenviertels. Sie waren zu acht, fünf Männer, drei Frauen. Ich nahm an, sie würden ein Bistro ansteuern, um dort zusammen zu Mittag zu essen, täuschte mich aber. Von Straßenecke zu Straßenecke wurde das Grüppchen kleiner. Einer verschwand in ein Geschäft, eine

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