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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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hatten mehrere Mädchen Drogenprobleme. Eine Klassenkameradin war wegen Prostitution von der Schule abgegangen, aber nicht Eltern oder Lehrer hatten sie dazu genötigt, sondern sie war auf einer Schüler-Onlineplattform so lange verunglimpft worden, bis sie von sich aus die Schule gewechselt hatte. Als die beiden Jungs ausstiegen, blieben sie auf dem Bahnsteig stehen und starrten so regungslos auf ihre Handys, als wäre ihnen über Facebook bedeutet worden, sich erst wieder zu bewegen, wenn der Mittagszug nach Cherbourg abgefahren war.
    Hätte ich eine weitere Spraydose gehabt, vielleicht wäre ich selbstvergessen darangegangen, auf die Sitze zu sprühen, was ich vor den Fenstern sah. Der Zug fuhr an einer Fabrik vorbei, auf deren Höfen und Parkplätzen kein Mensch zu sehen war. Wohin waren alle verschwunden? An einer Tankstelle standen Fernfahrer vor ihren von toten Insekten geschwärzten Zugmaschinen und rauchten. Mit einer zusammengerollten Zeitung hieb einer seinem Nebenmann in den Nacken, und der Geschlagene lachte und warf die Arme in die Luft. Fahrt, dachte ich, fahrt los und verschwindet! Über ein Feld lief ein Fuchs. Lauf, dachte ich, lauf!
    Bei Montmartin-en-Graignes verließ ich Calvados und fuhr über die Vire ins Département Manche. Irgendwo an dieser Grenze gab es eine Reihe Brücken, die ich für Kevin hätte zeichnen sollen. Ein silbergrau schimmerndes Band, das in weiten Bögen aufs Meer zulief – wie in einem Gemälde von Sisley kam mir die Vire und kam ich mir selbst vor, als der Zug über die Brücke rollte. Wenig später hielt er in Carentan. Aber man sah nicht viel von dem Städtchen, in dem Anniks Liebhaber wohnte. War sie je hier gewesen und hatte herauszufinden versucht, wie Serge lebte? Vielleicht arbeitete er am Hafen, in einem der zu Büroglaskästen umgebauten Speicherhäuser. Dutzende Eisenbahnergärten lagen längs der Gleise und erstreckten sich bis zu den Flussauen hinunter. Von Carentan waren 1944 nur Schuttberge übrig geblieben. Deutsche Panther- und Tiger-Panzer schossen die Häuser zu Klump, in denen sich alliierte Fallschirmspringer verschanzten, Steven Spielberg hatte es in Der Soldat James Ryan nachzustellen versucht. Auf dem Bahnsteig stand eine Gruppe kleiner Kinder mit zwei Erzieherinnen und wartete, dass der Zug hielt. Unter ihnen war vielleicht auch Serges Tochter oder sein kleiner Sohn. Es wurde laut in dem Waggon, die Kinder schnatterten und plapperten, und die zwei Frauen versuchten, die Meute zu einem Lied zu animieren, um von der allgemeinen Aufregung abzulenken, gaben es aber bald auf. Vielleicht war eine der beiden Serges Frau.
    Der Zug fuhr durchs Marschland des Parc des Marais. Die Größe des Himmels ließ die Meernähe erahnen, und auch die Häuser duckten sich tiefer und tiefer unter dem Wind und ballten sich zu immer kleineren Siedlungen. Die beiden Frauen, ihre Kleinen und ich erreichten Valognes. Kinder und Erzieherinnen stiegen aus. Mit einem Mal war es so still, dass ich mir selber leer vorkam. Ich wünschte mir den Lärm zurück, das Lachen und Singen, und weil sich nichts davon wiederherstellen ließ, riss ich wenigstens das Klappfenster auf.
    Im Bahnhof von Cherbourg-Octeville blieb ich verwirrt im Waggon sitzen, weil ich nicht gewusst hatte, dass die Stadt inzwischen einen Doppelnamen trug. Ein Schaffner ging durch den Zug, schon von Weitem rief er mir zu, hier sei Endstation. Froh, nicht allein zu sein, stieg ich mit ihm aus. Für sein schmales Gesicht hatte er einen gewaltigen Schnauzbart. Mit wippendem Bart zeigte der Schaffner zu einem Ausgang unterhalb einer großen Uhr. Dort ging es zum Hafen, zu den Englandfähren und Fährbüros. Es war halb zwei, der Schweiß brach mir aus.
    Ich beruhigte mich, als ich ins Freie kam. Die Sonne schien – und wie sie schien! –, und ein leichter Wind wehte, der sich mild anfühlte und mir durch und durch ging. Landeinwärts lag die dichte Wolkendecke, unter der ich bis nach Cherbourg-Octeville gefahren war, aber unmittelbar über der doppelten Stadt und dem grüngrau hereinrollenden Meer stand wie die letzte Spur eines Altweibersommers der leuchtend hellblaue Himmel. Boote tuckerten über die Reede, Kutter und Jachten, einige nahmen Kurs auf die offene See. Über die Mole spazierten Leute in Ölzeug oder mit Ölzeug über dem Arm, und hinter ihnen, noch weit draußen wie mitten auf dem Ärmelkanal, sah ich eine große Autofähre, die auf die Hafeneinfahrt zuhielt und deren Bugwelle verriet, mit welchem

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