Nie mehr Nacht (German Edition)
verschrottet hätten. Annik lachte noch immer – obwohl ihr die alte Brücke am Herzen lag. Ihre Großeltern, die Eltern ihres Vaters, lebten in Bénouville. Mit ihrer Mamie war sie als kleines Mädchen oft über den Caen-Kanal spaziert.
»Sich auflösen, verschwinden, und am Schluss / Vergessen, was im Laubwerk dich nie stört, / Die Qual, das Fieber und den Überdruss, / Hier wo ein jeder jeden stöhnen hört« – so ging der Vers weiter, mit Anniks Smartphone kriegten wir es leicht raus, auch dass er von Keats war.
Wie der alte Flaubert machte sie »Paff!«, als sie die Strophe gelesen hatte.
Sie stammte aus der »Ode an eine Nachtigall«. Die Nachtigall saß in der Baumkrone, wusste nichts von Miseren und Fiaskos, sondern sang. Annik mochte den Vers, auch wenn Gedichte und Vögel nicht ihre Welt waren. Wir verabschiedeten uns um drei Uhr morgens im Bad und verbrachten die Nacht in zwei angrenzenden Zimmern, sie einem dunklen, ich einem hellen. Jeder hatte seine Geheimnisse, und jeder behielt sie für sich. Sie hatte gut daran getan, mir eine Abfuhr zu erteilen. Ich hatte gar nicht sie gemeint, und Annik war einfühlsam genug, das zu spüren. Maybritt wäre stolz auf sie gewesen.
In Bayeux setzte sie mich an der Kathedrale ab. Ich gab ihr das Foto, und sie versprach, es Séverine Laudec in den nächsten Tagen vorbeizubringen. Wir sagten adieu, tauschten einen hastigen Kuss, damit es endlich vorbei war, und sie fuhr los.
Eine Weile drückte ich mich noch zwischen den eben erst öffnenden Läden herum, dann aber hielt ich es nicht länger aus und lief zum Bahnhof.
Eine Viertelstunde lang stand ich zwischen einem stählernen Pfeiler und einer viergeteilten Abfalleimerbox und hielt die Fahrkarte in der Hand, ohne mich entscheiden zu können, ob ich sie wegwerfen sollte. Ich zählte acht Männer und Frauen in diesen fünfzehn Minuten, die sich vermeintlich absichtslos näherten, stehen blieben und leicht vornübergebeugt in die Müllbehälter spähten. Keiner nahm etwas heraus. Suchten sie nach Pfandflaschen? Oder hatte ich mir das nur weismachen lassen? Ein junger Kerl drehte sich unvermittelt zu mir und bat um eine Zigarette. Zum ersten Mal fiel mir ein, dass ich nicht mehr rauchte, schon spürte ich ein unbändiges Verlangen nach Tabak.
»Cigarette?«, fragte er noch mal, und kurz klang das wie »bicyclette«, sodass ich an das Fahrrad dachte, das noch immer in Marigny an dem Bushaltestellenhäuschen lehnte. Ich machte eine Nichtrauchergeste, die der Junge zum Lachen fand. Er fragte nach einem Euro und erklärte mir auf Englisch, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Ich glaubte ihm jedes Wort. Ich gab ihm zehn Euro, und als er verblüfft vor mir stehen blieb, gab ich ihm noch zehn, und dann noch einmal zwanzig, bevor ich mich abwandte und schnell davonging, weil ich ihm sonst mein ganzes Geld gegeben hätte.
Als der Zug Bayeux verlassen hatte, wurde er schneller und nahm immer mehr Fahrt auf, bis er durch weite, von nichts als struppigem Gras bewachsene Felder fuhr. Den Bahndamm säumten Kopfweiden. Am Stamm einer halb kahlen Birke sah ich einen großen Grünspecht sitzen, den ersten freien in meinem Leben. Ich nahm mir vor, bis Cherbourg nichts zu tun, als aus dem Fenster zu sehen und die wenigen Leute zu beobachten, die mit mir in dem Waggon saßen und unterwegs waren zu Orten, die ich nicht kannte. Immer noch spürte ich an der Hand die Stelle, an der mich der Junge mit seinen nikotingelben Fingern berührt hatte – am Handrücken, auf dem Daumenballen –, doch ich war nicht mehr angewidert davon, nur noch erschüttert von meinem maßlosen Ekel. Ich sah meinen Nachbarn in der Rambachstraße vor mir, dessen Finger genauso gelb waren. Schön waren sie gewesen, die Jahre, die wir nebeneinander hergelebt hatten, der Kiffer und der Kritzler. Aber jetzt waren sie vorbei. Gäbe es die Möglichkeit, jemandem mitzuteilen, was man für ihn empfand, ich hätte die Chance genutzt und ihm mein Herz ausgeschüttet. Leicht fühlte ich mich, fast schwerelos. Fast als wäre ich die Schwere los! Ohne dass es mir etwas bedeutete, war ich in dem Zug seit Urzeiten wieder einmal glücklich, und als ich es merkte, erschrak ich.
Eine Zeit lang saßen schräg gegenüber zwei Jungs in Jesses und Niels’ Alter und schwatzten munter drauflos. Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Ein Mädchenname – Coralie – fiel immer wieder. Was mit Coralie los war, blieb mir ein Rätsel. In Jesses Klasse
Weitere Kostenlose Bücher