Niedergang
im Toprope geklettert, bis ihnen Anfang März die Routen ausgingen. Louise kletterte sicher im Schwierigkeitsgrad sechs; er war dabei, die Sieben zu knacken. Also machten sie, wieder beim selben Lehrer, den Vorstiegskurs, und dann ging es los mit eigenem Seil und dem Einklicken von jenem in die Echsen, was erheblich mehr Kraft benötigte. Sie begannen bei der Fünf, kletterten aber bald wieder in der Sechs.
Und jetzt ging es an eine richtige Bergwand. André hatte genau recherchiert: es handelte sich lediglich um neun Meter, direkt unterhalb des Gipfels, an einer Stelle sogar überhängend, aber klettertechnisch unter ihrem Niveau. Die Route würden sie locker bewältigen; sie war ein Spaß, eine Gaudi zum Abschluss der Wanderung. Vorausgesetzt, dass nicht alles vereist, es nicht so kalt war, dass die Finger steif wurden. Und selbst wenn: für die paar Meter benötigten sie nicht mehr als fünf Minuten.
Der Wind, der jetzt noch stärker wehte, sie regelrecht ausbremste, forderte André in angenehmer Weise heraus. Energisch kämpfte er sich durch ihn hindurch, wegen Louise im Schneckentempo, und hätte er nun die Bergwand vor sich gehabt– er wäre aus Freude gleich hochgestiegen, leicht und ohne einen Zweifel, sodass er das Seil nicht nötig gehabt hätte.
Vor Wochen hatte er von einem Kletterer in einem österreichischen Bergdorf gelesen, der in jungen Jahren stets ohne Seil hohe und schwierige Wände bezwungen hatte. Später beschrieb er in einem Buch, wie die Erfahrung, jederzeit abstürzen und sterben zu können, seinen Charakter geformt hatte.
Das imponierte André. Er dachte oft an den Österreicher, wenn sie in der Halle kletterten.
Louise schlich noch immer im selben Abstand hinterher. André blieb stehen, drehte sich zu ihr um und wartete. Er musste ein Wörtchen mit ihr reden; so konnte es nicht weitergehen.
Nach wenigen Schritten hielt auch Louise an, blieb dreißig Meter entfernt stehen. Sie sagte etwas, doch gegen den Sturm kamen ihre Worte nicht an.
» Was hast du gesagt? « , rief er übermäßig laut, obwohl seine Worte vom Wind zu ihr getragen wurden.
Sie winkte ab, legte den Rucksack zu Boden und zog den Goretex-Regenschutz aus. Sie verstaute die Winterjacke, die sie darunter getragen hatte, im Rucksack; offenbar war ihr wieder einmal zu warm geworden.
Kein Wunder, dass Louise ins Schwitzen gekommen war. Der Wind besaß eine solche Kraft, dass sie gegen ihn ankämpfen mussten, als ginge der Weg steil bergauf. An diese Möglichkeit hatte André bei seinen Berechnungen nicht gedacht; automatisch war er davon ausgegangen, dass der Weg auf der großen Ebene trotz der dreieinhalb Stunden Länge im Vergleich zur steilen Strecke vom Vormittag erholsam sein würde.
» Ist gut « , hörte er Louise rufen, und zweifelsfrei meinte sie damit, dass er weitergehen könne, sodass der Abstand zwischen ihnen gewahrt bliebe.
André ging nicht weiter. Er wollte nicht, dass Louise stets dreißig Meter hinter ihm herlief und ihre Ablehnung offen zur Schau stellte.
» Warum läufst du nicht mit mir? « , fragte er, als sie bei ihm angekommen war. » Warum lässt du dich ständig zurückfallen, als gehörten wir nicht zusammen? «
Das habe sie gar nicht bemerkt, antwortete Louise und fügte an, sie müsse ihr eigenes Tempo finden.
» Schön, du kannst mir ja Bescheid geben, wenn du es gefunden hast, damit ich mich deinem Tempo anpassen kann « , sagte er, ging langsam weiter und blickte immer wieder nach hinten, als wolle er prüfen, welche Geschwindigkeit Louise genehm war.
Der Wind, der in Böen kam, wehte ihnen wieder einzelne Tropfen ins Gesicht. Eine ganze Strecke weiter vorn, nah und doch fern, halb verschwunden im Regendunkel, erhob sich der nächste Minihügel, nichts weiter als eine Falte in der Ebene, nicht höher als die Erdanhäufung bei einer Straßenüberführung. Aber dieser unbedeutende Hügel bot sich an als Punkt zur Fixierung. André sah ihn näher und näher kommen, und als er auf ihm stand, konnte er undeutlich den nächsten Hügel erkennen.
Louise lief bereits wieder weit hinterher. Nach wenigen Metern schon hatte sie sich zurückfallen lassen, als sei ihr jedes Tempo, egal welches, zu schnell.
Erleichtert, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen, ging André in seinem Tempo weiter, zügig und federnd und dem Wind die Stirn bietend. Da sie es so wollte, kümmerte er sich nicht mehr um seine Freundin.
Ihm schien, als wären die kleinen Hügel im Dunkel der Wolken immer weniger gut
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