Niedergang
sie redeten; er fand dieses Gespräch unnütz, eine Ablenkung von dem Essen, ohne Bedeutung, bald Vergangenheit.
André löffelte seine Flädlesuppe, die ihm schmeckte, aber die er dennoch nicht genießen konnte, weil der Deutsche sie empfohlen hatte. Noch etwas ärgerte ihn: Ohne Louise davon zu erzählen, hatte er vorgehabt, den Wirt zu fragen, ob er ihnen die geplante Wanderung bei diesem Wetter empfehlen könne, oder ob sie eine andere Route wählen sollten. Auf die Leute in den Bergen, sei es ein altes Bäuerchen, ein junger Wirt, der Fahrer eines Postautos oder sonst jemand, war Verlass; die kannten sich aus. Dass jedoch ein Deutscher in der Hütte arbeitete, damit hatte André nicht gerechnet. Es gefiel ihm nicht. Er wollte einen Einheimischen um Rat bitten, aber nicht einen Neuling in den Bergen, einen deutschen Saisonnier, im Grunde ein deutscher Tourist.
Und dass die an diesem Tag so schweigsame Louise auf einmal gesprächig war, als sei sie allein unterwegs und froh, jemanden für eine Unterhaltung gefunden zu haben, missfiel André noch mehr, machte es ihm unmöglich, den Wirt um Rat zu bitten.
Jetzt erzählte der Deutsche, dass er seit zwei Jahren in dieser Hütte arbeite, im Sommer und im Winter. Und Louise, die fragte ihn begeistert aus, sprach mit ihm, als sei er, André, nicht da oder zumindest nicht ihr Freund.
Vorher, sagte der Deutsche, habe er ein Jahr bei einem Bauern auf einer Alp verbracht und gelernt, Kühe und Ziegen zu melken.
» Woher bist du? « , fragte der Wirt, als wolle er André mit in das Gespräch einbeziehen.
Aus Zürich, aber er wohne schon lange in Berlin, antwortete er kurz.
Er löffelte seine Suppe. Nein, er dachte nicht daran, den Deutschen um Rat zu bitten. Dieser kam aus dem Erzgebirge, sozusagen aus dem Flachland, konnte ihnen daher nicht helfen, würde höchstens mit allgemeinen Aussagen um sich werfen und, da er nicht verantwortlich gemacht werden wollte, ihnen von dem Vorhaben abraten.
André nahm ein Stück Brot aus dem Korb und riss es in der Mitte auseinander; die eine Hälfte legte er zurück, mit der anderen begann er, seinen leer gegessenen Teller auszuwischen. Vollgesaugt und nach Suppe schmeckend war das Brot noch besser, aber genießen konnte er es auch nicht.
Jetzt ging der Deutsche, verschwand in der Küche.
» Ist es lecker? « , fragte André Louise, die wie ein braves Kind aß, was der Deutsche ihr gebracht hatte.
» Ja « , sagte sie und aß weiter, als sei keine Zeit für ein Gespräch.
Er nahm die zweite Hälfte aus dem Brotkorb und begann, sie zu verzehren, um die Zeit bis zur Hauptspeise zu überbrücken und Louise gegenüber einen beschäftigten Eindruck zu machen. Er blickte dorthin, wo die anderen Gäste saßen, eine Gruppe sportlich aussehender Leute, die, wie es schien, öfter in den Bergen unterwegs waren.
Wieder dachte er, nun versöhnlicher, an den Deutschen, und er fragte sich, weshalb es ihm so schwerfiel, ihn um Rat zu bitten. Er hatte nichts gegen Deutsche, auch nichts gegen andere Ausländer, im Gegenteil: in Diskussionen vertrat er stets die Meinung, dass sie eine Bereicherung für die Schweiz darstellten. In Berlin war er selber ein Ausländer, wie konnte er also etwas gegen sie haben? Nein, darum ging es nicht, sondern um eine unterschwellige Abneigung, die tief in ihm drin war und gegen die er kaum etwas zu tun vermochte.
Auch nach Jahren in Berlin fiel es ihm beispielsweise schwer, bei einem Fußballspiel für die Deutschen zu sein. Und dies, obwohl ihm ihr Spiel gefiel, eines, das schön anzusehen, das angriffslustig war und meist viele Tore zur Folge hatte. Und dennoch: es ging nicht. Stets waren ihm die anderen sympathischer, die Italiener oder andere Südländer, die Tschechen oder andere Außenseiter, die Argentinier, die Kolumbianer, die weniger perfekt spielten, aber als Kinder auf der Straße ihr Talent entwickelt hatten.
Einige Spiele lang bei einer Europameisterschaft hatte er sich aktiv darum bemüht, für die Deutschen zu sein– und schnell wieder aufgegeben. Der Verstand machte mit, aber die Gefühle: keine Spur.
Seine Abneigung richtete sich nicht gegen einzelne Menschen, schließlich war er mit Louise zusammen und hatte mehrere deutsche Freunde, sondern gegen die Menschen als Gruppe und gegen den Staat. Einzelne Deutsche mochte er nur dann nicht, wenn sie als Wirt in einer Berghütte auftauchten, wenn sie irgendwo auftauchten, wo sie nicht hingehörten. Jetzt also auch hier. Die Berge waren doch bald
Weitere Kostenlose Bücher