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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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das letzte Refugium, das den Schweizern gegenüber den Deutschen verblieben war. Überall hörte man Leute Deutsch sprechen, in den Universitäten, bei Firmen, in Zürich auf der Straße– auch in den Bergen kam man offenbar nicht mehr darum herum.
    Aber was konnte der Wirt dafür? Er war ein kontaktfreudiger, vermutlich sogar ein gutmütiger Mensch. In Berlin hätte er sich vielleicht länger mit ihm unterhalten.
    Er beschloss, freundlich, ja freundschaftlich zu dem Wirt zu sein, ihn aber wegen der Route nicht um Rat zu fragen.
    Noch immer saßen André und Louise so schweigsam nebeneinander wie vorher, als warteten sie, dass der Wirt käme und mit seiner offenen, liebevollen Art, Konversation zu machen, sie erlöste. Endlich kam er, räumte die Teller ab und fragte, wie es geschmeckt habe.
    Louise warf mit Komplimenten um sich.
    Kaum war der Wirt gegangen, verfielen sie wieder in ihr Schweigen. Die Leute in der anderen Ecke unterhielten sich gut gelaunt und tranken Rotwein, aber, wie es schien, jeder nur ein kleines Glas. Bestimmt hatten sie morgen auch eine anstrengende Strecke vor sich.
    Oder täuschte der Eindruck, tranken sie alle mehrere Gläser und wanderten morgen gemütlich, anspruchslos vor sich hin?

8 – Kein falscher Ehrgeiz
    Um halb neun machten sie sich bereit zum Schlafen. Noch während des Essens waren sie müde geworden, langsam, sie bemerkten es kaum, aber als sie nach der Hauptspeise dasaßen, jeder für sich, durchdrang die Müdigkeit sie mit feiner Gewalt.
    Sie entschieden, schlafen zu gehen– eine gute Idee, sie mussten morgen wieder fit sein. Und was konnte man in einer Berghütte auch tun, wenn man nicht miteinander sprechen wollte?
    Der kleine Schlag in der zweiten Etage war mit zwei Reihen Matratzen ausgestattet, die eine unten, die andere oben, über eine Leiter zu erreichen. André hatte vorgeschlagen, unten zu schlafen, da oben die Luft schlecht wurde, wenn der Schlag voll war, wovon aufgrund des Gepäcks, das dalag, ausgegangen werden musste. Aber Louise wollte oben schlafen. Also reservierten sie dort zwei Matratzen, indem sie einige Kleidungsstücke darauflegten. Die Schlafsäcke brauchten sie nicht; Kissen und Decken waren vorhanden.
    Nach dem Zähneputzen ging André noch einmal nach unten, an der Gaststube vorbei vor die Tür. Unter dem winzigen Vordach stand er eine Weile da und blickte in den Nieselregen hinaus. Im Schein der Fenster sah er die herunterflitzenden Tröpfchen, so klein, dass aus ihnen leicht Graupel oder Schnee werden konnte. Nein, das Wetter spielte nicht mit. Es war kalt geworden. Sank die Temperatur um weitere ein, zwei Grad, begänne es zu schneien.
    Der Wind, der am Nachmittag noch kräftig gewesen war, hatte sich gelegt. Unterhalb der Hütte, am Wegesrand, glänzte im Fensterlicht ein sesselgroßer Stein, der André bereits bei der Ankunft aufgefallen war. Die etwas weiter entfernten gelben Schilder des Wegweisers, die in vier oder fünf Richtungen zeigten, hoben sich schwach von der Dunkelheit ab.
    André musste bis morgen entscheiden, wie es mit der geplanten Wanderung weiterging. Da er den Wirt nicht fragen wollte, musste er selber überlegen, das Dafür und Dawider sorgfältig abwägen und eine Entscheidung treffen, die ausschließlich von der Vernunft bestimmt war und nicht von falschem Ehrgeiz oder seinen Wünschen.
    Die bei solchen Unternehmungen üblichen Fragen mussten gestellt werden. War die geplante Erstürmung des Gipfels bei diesen Wetterverhältnissen verantwortbar? Wie stand es um ihre Kräfte? Und wie um die Stimmung, die Moral? André wusste: Allein die Spannung zwischen Louise und ihm, der schwelende Groll gegeneinander, der jeden Moment in Streit ausarten konnte, hätte als Rechtfertigung genügt, die Route anzupassen, eine zu wählen, die keine besonderen Herausforderungen stellte.
    Und falls es in der Nacht zu schneien anfing, falls es richtig viel Schnee gab, sodass sie bis über die Knie darin versanken, wäre es dumm, die geplante Wanderung stur wie ein Esel durchziehen zu wollen. Er war erfahren genug, um sich nicht von solchem falschen Ehrgeiz leiten zu lassen.
    André kehrte in den Schlag zurück, wo Louise bereits bis zu den Ohren eingebettet dalag. Sie schlug die Augen auf, als er sich auszog, aber nur, um ihm gute Nacht zu wünschen.
    Nur kurz lagen sie nebeneinander auf dem Rücken, wie sie es üblicherweise taten, aber sie lagen nicht nah genug, dass ihre Arme sich berührten, und schon gar nicht lagen sie sich in den

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