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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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Mann mit dem Dreitagebart und den hochgekrempelten Ärmeln knickte in den Knien ein, ruderte mit den Armen, bekam dadurch, völlig unpassend, etwas von einem Betrunkenen, der auf der Berghütte zu viele Schnäpse erwischt hatte. Er stolperte ein paar ziellose Schritte, kam dadurch vom schmalen Bergsteig ab und wäre fast in den nahen Abgrund gestürzt. Der Putzi lief schnell zu ihm hin, stützte das taumelnde Opfer und führte es weg vom Steilhang. Dann trat er einen Schritt zurück und platzierte nochmals einen kurzen, gezielten Schwinger auf die Halsschlagader, die Arteria carotis, deren Unterbrechung die gewünschte Ohnmacht hervorrufen sollte. Doch der Schlag, diesmal mit der nackten Faust, war wiederum zu unpräzise gewesen, der junge Mann hielt sich immer noch auf den Beinen und rang nach Worten.
    »Was – was – wer sind Sie –«
    Dann ließ er sich ins Gras fallen. Er saß da und starrte den Putzi ungläubig an. Der Putzi trat näher, beugte sich über ihn und boxte ihm mit einem kurzen knappen Uppercut auf die andere Seite unterhalb des Kinns. Endlich war es soweit, der junge Mann versank seufzend ins Reich der Träume. Nur probehalber gab ihm der Putzi ein paar leichte Ohrfeigen, zwickte ihn ins Bein und sprach ihn an.
    »Hallo! Hören Sie mich? Ich bin der böse Putzi und habe Sie in meiner Gewalt.«
    Der Mann zeigte keinerlei Regung, er war augenscheinlich vollständig ins Land des Vergessens gesunken. Vermutlich fing bereits irgendeine Sektion in seinem Hirn damit an, die letzten zehn Minuten der kleinen grauen Festplatte zu löschen. Von der retrograden Amnesie hatte der Putzi viel gelesen. Praktischerweise tilgt sie die Erinnerung an die Zeit vor dem traumatischen Ereignis, und das war genau das Richtige für ihn. Durch diese eigenartige Schutzfunktion konnte er das arglose Opfer ansprechen, er konnte sich mindestens zehn Minuten mit ihm unterhalten, nach übereinstimmender Neurologenmeinung war das der Zeitraum, der von der RA vollständig und unwiederbringlich ausgelöscht wurde.
     
    Der junge Mann lag im Gras, als ob er schlafen würde, anmutig hingestreckt wirkte er, beinahe malerisch. Wenn Paul Cézanne vorbeigekommen wäre, hätte er sicher eine kleine Wanderpause eingelegt, er wäre stehengeblieben angesichts dieses hübschen Motivs inmitten der Natur. Doch nicht der große Impressionist kam jetzt dort unten den Weg herauf, sondern zwei verschwitzte Wandervögel aus Böblingen bei Stuttgart. Der Putzi beugte sich schnell über den Bewusstlosen. Keine Blutungen, keine Kratzer, keine sichtbaren Schwellungen. Ein Hieb hätte freilich keine Spuren hinterlassen, aber ähnlich wie beim Bierfaß-Anstich auf dem Oktoberfest waren drei Schläge einfach zu viel. Das war nicht nur unelegant, sondern auch gefährlich. Das musste zu Hause noch einmal geübt werden.
     
    »Der Mann hier ist ohnmächtig geworden«, sagte der Putzi, als die Böblinger herangekommen waren. Doch die wussten auch keinen besseren Rat, als dem Mann Flüssigkeit aus ihren Wasserflaschen ins Gesicht zu spritzen. Der junge Mann seufzte, zeigte aber ansonsten keine Regung. Ein sächsisches Professorenehepaar, das dazukam, riet abzuwarten, ein Taxifahrer mit abgebrochenem Tiermedizinstudium drehte den Mann in eine stabile Seitenlage, eine Gruppe Schweden bot an, die Bergwacht zu rufen, und dann kam sogar eine Pathologin des Wegs. Sie stellte sich als Dr. Michaela Wolkersdörfer vor. Sie fühlte den Puls, legte das Ohr auf die Brust, öffnete die Augenlider, prüfte den Kniereflex, untersuchte die Unterarme, kniff in beide Ohrläppchen, erhob sich wieder und diagnostizierte eine Synkope.
    »Das vergeht wieder«, stellte sie fest.
    »Eine Ohnmacht«, flüsterten sich alle zu.
    Der Putzi genoss die Szene, die Außergewöhnlichkeit des Auflaufs, die Hilflosigkeit und auch die Arglosigkeit dieser Menschen. Ihm gefiel das Idyllische daran. Eigentlich empfand er tiefes Mitleid mit ihnen wegen ihrer Unwissenheit. Nach einiger Zeit öffnete der junge Mann schließlich ganz von alleine die Augen, murmelnd und grummelnd tauchte er aus dem hirnlosen Schlammgraben auf, in den ihn der Putzi gestoßen hatte und den man landläufig das Unbewusste nennt. Und jetzt wurde der Putzi sogar ein bisschen kühn, er drängte sich ganz nach vorn, so dass der Erwachende ihn als Ersten sehen musste. Der junge Mann fixierte den Putzi, aber so, als ob er einen Wildfremden vor sich hätte.
    »Was – was ist passiert?«, fragte der junge Mann. Beruhigend

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