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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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hinbringen. Dort würden bald ein Paar klobige Bergschuhe aus der Höhlung ragen. Der Putzi steckte das Fernglas zurück in die Hülle und marschierte mit strammem Schritt weiter. Er hatte heute noch viel vor.
     
    Zunächst hatten den Putzi ganz handfeste Gründe von seinem Vorhaben abgehalten. Das Werdenfelser Land war ein touristisch außerordentlich gut erschlossenes Gebiet. Man hatte den Eindruck, dass jedes Fleckchen schon einmal betreten oder beklettert, jedes Stück Stein fotografiert oder abgemalt, jedes lauschige Plätzchen in Berg und Tal schon einmal von Horden von Erholungssuchenden überfallen worden war. Der Putzi hatte deshalb auch mit dem Gedanken gespielt, sein Vorhaben im Ausland durchzuführen. Aber zum einen wäre das ein Verrat an der Gemse gewesen. Und noch etwas sprach für den Kurort. Der Putzi war eine ortsbekannte Figur, er würde nicht auffallen, weder bei den Vorbereitungen noch bei der Durchführung. Der eigentliche Anstoß für seinen Plan kam dann letzten Sommer. Hubschrauber der Bergwacht kreisten über dem Talkessel. Zwei Bergsteiger wurden vermisst. Er hatte seiner Mutter ein bisschen im Geschäft geholfen, und die Kunden trugen Information über Information herein. Auf dem Jubiläumsgrat wären sie unterwegs gewesen, die auswärtigen Bergsteiger, hieß es, alle Wetterwarnungen in den Wind schlagend, unerfahren und ohne bergkundige Führung. Sie hatten die Länge der Tour unterschätzt und waren auf eine Übernachtung am Berg nicht vorbereitet. Häppchenweise brachten die Kunden die Details und stellten langsam ein Bild zusammen, wie man es
nicht
machen sollte. Zwei Tage hätten die Bergsteiger jetzt schon keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Drei Tage. Vier Tage. Fünf Tage. Der Putzi verfolgte die Ereignisse gespannt. Nach einer Woche wurde die Suche eingestellt, man fand nicht einmal die Leichen.
    »Das kommt öfters vor, einmal im Jahr aber bestimmt«, hatte ein Bergwachtler im Laden zu seiner Mutter gesagt.
    »Dann leben wir ja in einer gefährlichen Gegend!«
    »Ja freilich. Auf der unzugänglichen Nordseite vom Jubiläumsgrat, da ist es praktisch unmöglich, die Suche mit Hubschraubern gezielt fortzusetzen. Wenn jemand in eine schlecht einsehbare Felstasche rutscht, dann ist es ganz aus.«
    Nichts wie hin zum Jubiläumsgrat, hatte sich der Putzi damals gedacht. Seitdem war er viel gewandert und hatte Ausschau gehalten nach verborgenen Felstaschen und uneinsehbaren Naturgrotten, nach überhängenden Wänden, Stichhöhlen und Guffeln. In die eine oder andere Felstasche hatte er sich gekauert, in ein paar davon hatte er sogar übernachtet.
     
    Jetzt ging der Putzi zu solch einer Stelle, und er war guter Dinge. Er hatte sich seit Jahresanfang bestens vorbereitet, und nun klappte alles ohne Zwischenfälle. Der Putzi blieb stehen. Sollte er diesen Menschen nicht helfen, sich auf ihre schwere Entscheidung zu konzentrieren? Sollte er ihnen nicht etwas an die Hand geben, damit sie sich in ihrem neuen Leben, als Wiedergeborene, besser zurechtfinden konnten? Sollte er ihnen nicht etwas in den Rucksack packen, bei dem sie sich entspannen konnten, einen Gegenstand, mit dem sie auch mal wieder zur Ruhe kamen. Etwas zum Lesen? Ein Geduldsspiel? Vielleicht sogar Papier und Bleistift? Ihm würde etwas einfallen. Er ging weiter, und er war so in Gedanken, dass er nicht bemerkte, dass ihn jemand verfolgte. Die schattenhafte Gestalt lief durch den Wald, blieb manchmal stehen, um sich hinter einem Baum zu verbergen. Die Mutter vom Putzi war misstrauisch geworden. Schon längst. Heute hatte sie ein Schild an die Tür gehängt und den Laden zugesperrt. An so einem heißen Tag wie heute war eh nicht viel los. Sie war ihrem Sohn bis zum Friedhof gefolgt, immer in sicherem Abstand. Was sollte sie tun, wenn er sie bemerkte? So schlimm war das auch wieder nicht, dann bemerkte er sie halt. Aber der Putzi war so guter Laune, so konzentriert hochgestimmt, dass er nichts um sich herum wahrnahm. Am Friedhof selbst gab es dann die große Überraschung: Der Putzi betete. Inbrünstig stand er dort vor dem Familiengrab, ihr kleiner Putzili, er hatte den Kopf geneigt, der brave Racker, und seine Lippen bewegten sich. Hatte er nicht sogar die Augen geschlossen? Tränen der Rührung stiegen in ihr auf und ein heißes Gefühl der Liebe drohte sie ganz und gar in Beschlag zu nehmen. Sie schlich etwas näher. Auch eine Kerze hatte er angezündet. Brav.
     
    Lange stand er dort, mit seinem prallen Rucksack,

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