Niedertracht. Alpenkrimi
helllichten Tag und unter freiem Himmel, ohne dass es Weihnachten, Allerheiligen oder Allerseelen war!
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja freilich. Ich habe eine Wetterjacke dabei, ich zünde eine Kerze an. Auch wenn heute nicht Allerseelen ist. Und ich bin am Abend wieder zu Hause.«
Der Putzi machte sich auf den Weg, und bald stand er am Grab seines Vaters, seiner Tante, der beiden Großeltern und einer Großcousine, die er allerdings nie kennengelernt hatte. Er zündete eine Kerze an, und sie wirkte in der Tat verloren, fast schon fehl am Platz, an einem heißen Sommertag wie diesem. Trotzdem blieb er noch eine Weile stehen und bedankte sich beim Vater wortlos für die Kartuschen mit dem Sahnesteif. Auf dem Grabstein nebenan war zu lesen:
Herbert Roitzenthaler
1931 – 1998
Theresia Roitzenthaler-Tidenhub
1933 –
Die grausige Leerstelle, das aufdringliche Memento mori, den kleinen mahnenden Bindestrich, den man in letzter Zeit auf immer mehr Grabsteinen sah, ließ ihn erschaudern. Flüchtig schlug er das Kreuz, dann machte er sich auf den Weg zur Kuhflucht.
Er setzte sich an die Stelle, an der er schon vor so vielen Jahren gesessen war und hinaufgesehen hatte zum luftigen Grab der Gemse. Die Gebeine mussten natürlich längst verwittert sein, zuerst von Ameisen sauber abgenagt, dann von den Vögeln weggetragen und dadurch wieder dem ewigen Kreislauf der Natur zugeführt. Rein physikalisch war die Gemse dort oben verschwunden. Trotzdem wagte er es auch nach so vielen Jahren immer noch nicht, auf den Felsvorsprung zu klettern und sich davon zu überzeugen, ob nicht doch noch ein kleiner Rest von ihr übriggeblieben war. Himmlisch still war es hier oben, die Luft rieselte warm auf ihn herab, von ferne hörte man, ganz pianissimo, das harmonische Gebimmel von Kuhglocken. Der Putzi nahm einen Grashalm in den Mund und kaute Huckleberry-Finn-artig darauf herum. Er ließ sich rücklings ins Gras sinken, schob den Rucksack unter seinen Kopf und trank einen Schluck Zuckerwasser aus der uralten Thermoskanne, die er bei seinen Streifzügen immer dabei hatte. Schade, dass man an Weihnachten und Allerheiligen nicht hierherkommen konnte. Da blieb ihm nichts anderes übrig, als mit der Mutter auf den Friedhof zu gehen und sich die scheppernde Blasmusik und die stereotypen Sprüche der anderen Friedhofsbesucher anzuhören. Wieder ein Jahr rum, man wird auch nicht jünger, letzte Woche hat sie noch gelebt, Hauptsache gesund. Was hätte er drum gegeben, am Totensonntag abends auf die Kuhflucht zu gehen, um die Gemse dort zu besuchen und sich philosophischen Gedankenspielen über alles Werden und Vergehen hinzugeben. Ob sie wohl Nachkommen gehabt hatte, die arme Gemse? Ob ihre Gefährten, die sie verlassen hatten in der Not, manchmal an sie dachten? Er stand auf, klopfte sich die Hose ab und ging weiter. Der Mann in der Zugspitzwand hatte eine ganze Woche ausgehalten. Er war nicht gesprungen. In den ersten Stunden hatte er nur geschrien, er hatte sich seine Wut und seine Verzweiflung aus dem Leib gebrüllt, als ob er nicht wahrhaben wollte, was mit ihm geschehen war. Dann war der Mann ruhiger geworden. Durch sein Fernglas hatte der Putzi beobachten können, wie er den Rucksack, die Hosen- und Jackentaschen und das Innere der Höhle durchsuchte, immer und immer wieder. Am Ende hatte sich seine Suche nach Fluchtmöglichkeiten zu einer hektischen, fast zwanghaften Betriebsamkeit gesteigert. Dann hatte der Mann resigniert, sich in das Unabänderliche gefügt. Er schien nichts mehr um sich herum wahrzunehmen. Er schien sich darauf zu konzentrieren, keine Schmerzen und keine Angst mehr zu empfinden. Ganz am Schluss schien er sogar zu lächeln. Der Putzi hatte das Gefühl, dass er diesen Mann in irgendeiner Weise glücklich gemacht hatte. Warum aber war er nicht gesprungen? Warum hatte dieser Hans nicht ein paar Sekunden investiert, um von allen Schmerzen frei zu sein? Der Putzi war zu weit entfernt gewesen, um Details erkennen zu können, selbst mit diesem außerordentlich guten Fernglas. Er hatte sich vorgenommen, das nächste Mal eine Stelle auszusuchen, die er genauer beobachten konnte. Zu einer solchen Stelle kam er jetzt. Er verließ den Spazierpfad, kletterte ein paar unwegsame Steilhänge hoch, erreichte eine bewaldete kleine Hochebene und richtete sein Fernglas endlich auf die gegenüberliegende Felswand. Perfekt: Diese Nische lag nicht weiter als fünfhundert Meter entfernt. Dort würde er sein nächstes Opfer
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