Niedertracht. Alpenkrimi
was sich vor einem ehrwürdigen Familiengrab einigermaßen seltsam ausnahm: Derjenige, der noch wanderte, stand vor demjenigen, der das Wandern endgültig aufgegeben hatte. Jetzt aber brach er auf, der Putzi. Die Mutter folgte ihm wieder in gehöriger Entfernung, über saftige Wiesen, durch kühle Wälder und auf geschwungenen Wegen. Sie konnte ihm gut folgen, denn er machte des Öfteren Pausen, schien dann etwas in ein Büchlein zu notieren. (Was war denn ihr Putzi für einer? Schlug er seinem Vater nach, der ab und zu hitzige Gedichte geschrieben hatte?) Einmal hätte sie ihn fast verloren, da hatte er den Weg verlassen und war auf einer steilen Geröllhalde weitergeklettert. Doch er kam wieder zurück, und sie konnte die Verfolgung erneut aufnehmen. Jetzt ging es etwas aufwärts, der Putzi wurde immer schneller, und sie hatte dann doch Mühe, ihm nachzukommen. Wenn er nicht ab und zu stehen geblieben wäre, um die Landschaft mit dem Fernglas abzusuchen, hätte sie es vielleicht sogar aufgegeben. Jetzt sah er sich um, und sie konnte sich gerade noch hinter einem Baum wegducken. Je weiter sie gingen, desto mehr schämte sie sich für ihr Misstrauen. Es war doch alles ganz harmlos. Ihr kleiner Putzi wanderte halt gern, er durchstreifte den grünen Forst, beobachtete das scheue Reh und den scharfsichtigen Bussard. Einen letzten Blick wollte sie auf ihn werfen, auf ihren unschuldigen Putzi, doch dann traf sie fast der Schlag. Dort, in zwei- oder dreihundert Metern Entfernung stand er und sprach mit einer jungen Frau mit Zöpfen und stechend roten Kniestrümpfen. So hatte sie ihren Sohn noch nie gesehen. Die beiden Turteltauben setzten sich, lachend und scherzend, wie ihr schien. Also doch.
Sie hatte kein Fernglas mitgenommen, sie konnte die Szene nicht genau erkennen. Sie wollte auch ihre Deckung gerade jetzt nicht verlassen. Doch so viel sah sie, dass sich ihr Sohn jetzt über die Frau beugte. Er verdeckte sie. Er redete auf sie ein. Die Frau ließ sich jetzt auf die Wiese fallen, so dass sie auf dem Rücken zu liegen kam. Sie strampelte mit den Beinen, der Putzi beugte sich noch weiter über sie. Ein Kuss? Ein Kuss. Die Mutter glaubte zu wissen, dass das ein Kuss war. Es war kein Kuss. Es war Distickstoffoxid, auch bekannt unter dem Namen Sahnesteif. So kann sich das Mutterauge täuschen.
20
Tjo tjo di ri,
Tjo tjo di ri,
Tjo tjo ri i di
Jo e tjo i ri.
Andachtsjodler, mit frdl. Genehmigung des Volksmunds
»Kennen Sie diesen Mann?«
Nein, wer ist das, wer soll das sein, muss man den kennen? Sie war mit dem Foto jetzt schon durch halb Europa gefahren, an jedem Wochenende, an jedem freien Tag. Sie war in Neapel gewesen, in Innsbruck, in Hamburg und in Roma Termini. Natürlich auch in Messina. Verdammte Eifersucht, fluchte sie, als sie in der Hitze dieser sizilianischen Stadt ausstieg, verdammte Eifersucht, murmelte sie, als sie das ganze Bahnhofsviertel von Messina Centrale abklapperte und dort mit ihrem Touristenitalienisch herumfragte. Nein, nie gesehen, wer soll das sein? Der passt überhaupt nicht zu Ihnen, hatte einer gesagt.
Verdammtes Fluchttier, verdammter Pferdemensch, flüsterte sie, ich krieg dich noch. Ein Dorfpolizist in Flintbek, der kurz vor der Pensionierung stand, zeigte auf die Deutschlandkarte und stach mit dem Finger auf einen Punkt im äußersten Süden. Wissen Sie, was aus diesem Kurort gemeldet wird? Da wurde in der Zugspitzwand ein Toter gefunden. Sie erschrak fürchterlich. Schon am nächsten Tag stand sie am Bahnhof des Kurorts. Die Morgenluft in den Alpen roch wie frisch eingeschenkter Champagner, so spritzig und frisch wehten die Brisen von allen Seiten, das Wettersteingebirge schien mit einem funkelnden Mantel aus Aspik und Luft-Gelatine überzogen zu sein. Sie war noch nie im Gebirge gewesen und bestaunte sprachlos die Trillionen Tonnen Kalkstein.
Zuerst ging sie zur örtlichen Polizeistation. Ein gemütlich aussehender Mann tippte gerade ein Protokoll, das sah sie durchs Fenster. Er drückte hastig seine Zigarette aus, als sie hereinkam. Grüß Gott, Fräulein, Sie sind anscheinend nicht von hier. Warum, sieht man das? Ja freilich, wenn jemand so blond und sommersprossig ist, dann muss er von hoch droben aus dem Norden kommen. Der Polizist sprach breites Bayrisch, bei manchen Ausdrücken musste sie nachfragen. Ja, wir haben hier momentan allergrößte Probleme, zeigen Sie mal das Foto her. Nein, dieser Mann ist nicht unser Toter. Danke, auf Wiedersehen, wie heißen
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