Niedertracht. Alpenkrimi
Opfer hingegen hat seine Kräfte angesichts der gähnenden Tiefe vermutlich mit Schreien verbraucht. Und vor allem mit Angst. Die Angst ist ein ganz schlechter Begleiter am Berg. Sie verbraucht mehr Proviant als fünf nepalesische Sherpas.«
Abgrund – gähnende Tiefe – Angst. Frau Doktor Maria Schmalfuß bekam einen kleinen Schweißausbruch. Ihre Augen flackerten, und ihr Atem ging stoßweise. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und schreiend hinausgerannt. Aber sie beherrschte sich. Nach einigen Sekunden hatte sie sich wieder im Griff. Hubertus Jennerwein war der einzige, der diesen kleinen Ausfall bemerkt hatte.
Es klopfte. Das war insofern verwunderlich, weil das Anklopfen im oberbayrischen Raum eigentlich nicht so recht gebräuchlich ist. Man bumpert mehrmals an die Türe, mit der Faust oder mit der flachen Hand, man schlägt mit dem schweren Knotenstock an den Rahmen, man rüttelt an der Türklinke, man tritt mit dem Fuß ans Holz, man schreit durch die geschlossene Tür hinein, ob jemand da wäre – oder aber man reißt eine nicht geöffnete Tür einfach auf und platzt unmittelbar herein. Das Anklopfen hingegen ist eines jener preußischen Importe, die sich nie ganz durchsetzen werden. Jetzt aber hatte es, wenn auch zaghaft, geklopft.
»Der Tod?«, fragte Ludwig Stengele.
»Aber schon so früh?«, setzte Hölleisen hinzu.
Es klopfte erneut. Ostler erhob sich und öffnete die Tür. Draußen stand – genauer gesagt saß – die Gerichtsmedizinerin. Sie trug nicht wie üblich ihren weißen Kittel, sondern ein grelles Hawaiihemd.
»Ich will vorausschicken, dass ich nicht dienstlich hier bin«, begrüßte sie die verwunderten Anwesenden. Sie rollte herein und legte ihren Sonnenhut auf den Schoß.
»Wie Sie sehen, bin ich auf dem Weg in den Urlaub. Warum starren Sie mich alle so an?«
»Wir haben gedacht, es ist jemand anderes«, sagte Nicole. Niemand konnte sich das Schmunzeln verkneifen. Der Tod in Hawaiihemd und Sonnenhut, na klasse.
»So, so«, sagte die Rollfrau. »Wen auch immer Sie erwartet haben, jetzt bin ich da. Mir ist da nämlich noch etwas eingefallen. Es ist reine Spekulation, deshalb gehe ich nicht den papierenen Dienstweg. Wahrscheinlich ist es eine Sackgasse, aber das müssen Sie entscheiden.«
»Kaffee?«
»Ja, gerne. Um es kurz zu machen: Ich habe unseren Hans nochmals unter die Lupe genommen, jeden seiner Körperteile. Der Mumifizierungsprozess der Muskeln ist natürlich schon sehr weit fortgeschritten. Aber eines ist mir aufgefallen, nämlich seine ausgesprochen muskulösen Hände.«
»Ein Handwerker?«
»Ein Bäcker?«
»Ein Masseur?«
»Vielleicht, ja. Das war auch mein erster Gedanke. Aber dann: die Fingerkuppen! Sie sind sehr beansprucht worden, zumindest an einer Hand, an der linken. Die Knochen der äußeren Fingerglieder sind extrem abgenutzt, das habe ich noch bei keiner Bäcker- oder Masseurleiche gesehen. Und jetzt kommt das eigentlich Sonderbare. Die Fingerkuppen an der linken Hand sind muskulöser, wesentlich muskulöser sogar.«
»Er war Linkshänder?«
»Nein, er war Rechtshänder. Die übrigen Muskelgruppen der rechten Hand sind besser ausgebildet. Nur die Fingerspitzen der linken Hand sind muskulöser.«
»Welcher Rechtshänder hat gut ausgebildete Fingerkuppen an der linken Hand?«
»Ich habe auch spaßeshalber die Fingernägel untersucht. Sie waren noch gut erhalten. Außer am Daumen waren die Nägel der linken Hand abgeschliffen oder abgefeilt, die der rechten Hand nicht. Und jetzt fahre ich in Urlaub. Der Kaffee war gut, besser als in der Pathologie. Wenn es ganz dringend ist, rufen Sie mich in Wörgl an: Hier ist meine Telefonnummer.«
Und weg war sie, die Frau mit dem grellen Hawaiihemd.
»Ein Beruf, bei dem man die Hände stark einsetzt«, sagte Jennerwein, »und zwar die eine Hand mehr als die andere. Ich warte auf Vorschläge.«
Die versammelte Denkfabrik der MK IV saß eine Weile stumm und sinnend da.
»Auch abwegige und blöde Vorschläge sind willkommen.«
Jetzt traute sich erst recht niemand mehr.
»Es gibt bestimmte Sportarten«, sagte Stengele, »bei denen man nur eine Hand braucht. Tennis zum Beispiel.«
»Ein Tennisprofi? Aber die Frau Gerichtsmedizinerin hat auch gesagt, dass er kein Berufssportler war. So extrem durchtrainiert war er nämlich nicht.«
»Wie wäre es mit jemandem, der noch viel mit der Hand schreiben muss? Ein Kalligraph zum Beispiel.«
»Ein Kunstmaler?«
»Aber sie sagt, er ist Rechtshänder und
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