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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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Zeitlang da. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er hierher gekommen war. Panik stieg in ihm auf, Schweißperlen traten auf seine Stirn. Ruhig, ruhig bleiben, dachte er, ruhig bleiben, murmelte er halblaut, ruhig bleiben!, schrie er schließlich laut und versuchte damit, sich die nackte Angst aus dem Leib zu schreien. Er drehte den Kopf in die Richtung, aus der etwas Licht herkam. Das hereinströmende Blau blendete ihn. Er blinzelte. Erst nach einiger Zeit erkannte er ein Stückchen strahlenden, wolkenlosen Himmel. Er schien unverletzt zu sein. In seinem Mund spürte er leichten Geschmack von Blut, aber das konnte auch Einbildung sein. Er versuchte sich zu erinnern. Wie war er in dieses Loch geraten? Was hatte er gestern Abend gemacht? Was hatte er gestern den ganzen Tag über getrieben? Den Tag zuvor? Keine Ahnung. Er konnte sich an überhaupt nichts erinnern. Total erase. Er leckte mit der Zunge über die Lippen, sie waren trocken und rissig, er verspürte großen Durst. Total erase. Wieder packte ihn das Gefühl der nackten Angst. Erase, erase – warum fiel ihm gerade jetzt das Wort
erase
ein? Das wusste er noch: dass er Computerprogrammierer in einer kleinen Firma war. Es war ein Ein-Mann-Betrieb, und der eine Mann war er. Sein schlechtlaufender Betrieb stand wohl jetzt leer. Weg mit diesen überflüssigen Gedanken. Analyse. Erstens: Wie war er hierhergekommen? Zweitens: Wo war er? Drittens: Lösungsmöglichkeiten. Er richtete sich noch weiter auf, diesmal ganz langsam und vorsichtig. Diesmal stieß er sich nicht an der Wand, lediglich das Seil schnitt schmerzhaft in sein Handgelenk. Egal. Er sah, dass die Schnur mit einem Karabiner an der Decke eingehängt war. Er beugte den Oberkörper vor. Er versuchte, sich unten mit den Füßen abzustützen. Dabei geriet er an einen faustgroßen Stein, der sich löste, geräuschvoll wegkullerte, um schließlich über den Rand der Nische zu fallen. Und jetzt kam das Schlimmste: Er hörte keinen Aufprall. Er wartete, bange fünf Sekunden. Zehn Sekunden, zwanzig. Nichts.

24
    Scheußlich klingen die Jodler im oberösterreichischen Iglhofen. Müde und unsagbar gequält ringen sie sich aus der Kehle der hässlichen Sänger. Noch schlimmer ist es in Grantzbichl. Das Gejodle bei den schlecht besuchten Grantzbichler Heimatwochen ist eine Kakophonie des Grauens, eine Kartätsche ins Ohr des Unvorbereiteten.
    (Thomas Bernhard, Reisen durch Oberösterreich)
    In der Bäckerei Krusti ging es heute wieder hoch her. Im angeschlossenen Café debattierten die Bürger hitzig über den erneuten Fund. Viele waren gestern droben gewesen auf der Greininger-Wiese, oder sie hatten gerade jemanden getroffen, der droben gewesen war.
    »Ich glaube, dass sie erfroren ist«, sagte der Baader Helmut, der freiberufliche Installateur. »Am Berg, da erfrieren die meisten.«
    »Aber doch nicht in einer so warmen Sommernacht!«, widersprach der Schlossermeister Johannes Zitzel. »Ich bin mit meiner Frau bis zwei Uhr morgens auf der Terrasse gesessen, wir sind auch nicht erfroren.«
    »Aber eure Terrasse liegt nicht auf sechzehnhundert Meter Höhe«, sagte der Laiblbauer Kaspar.
    »Verdurstet wird sie halt sein.«
    »Ach, Schmarrnkübel! Verdurstet! Am Berg verdurste ich doch nicht! Da halte ich die Hand auf und wart’, bis es regnet.«
    »Und wenn es nicht regnet?«
    »Irgendwann regnets schon. Verdurstet ist noch keiner am Berg. Auf hoher See: ja. In der Wüste: auch. Aber nicht am Berg.«
     
    Der unvermeidliche Gemeinderat Toni Harrigl kam herein. Er zog eine Handvoll Sympathisanten hinter sich her, und er war äußerst erregt.
    »Wenn das so weitergeht, dann können wir einpacken«, eröffnete er. »Dann brauchen wir uns für überhaupt keine Sportveranstaltung mehr zu bewerben. Dann können wir auch die Skischanze wieder abreißen. Und unser international bekannter Kurort wird zurückkatapultiert ins Mittelalter, zu einem kleinen, unbedeutenden Flößerdorf.«
    »Wäre sowieso besser«, murmelte der Höhenrainer Wacki, ein renitenter Olympia-, Skisprung-, Skilauf- und überhaupt Sportgegner, der bloß deswegen geduldet wurde, weil man dachte, dass er nicht ganz richtig im Kopf war. Alle hatten sich an die Tischchen gesetzt, Harrigl stand immer noch, er ruderte mit den Armen, er fühlte sich als der Robespierre des Oberlandes.
    »Wir müssen radikale Schritte einleiten. Die Polizei ist überfordert. Ich schlage den Aufbau einer spontanen Interessensgemeinschaft für die Sicherheit in unserer

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