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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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verschluckt hatte und der Sonne entgegenflog. Doch die olivgrüne Plane war beileibe kein Leichensack, sondern vielmehr der bequeme Sitzsack von Ludwig Stengele, der munter und wohlauf war und nicht leblos herausgezogen worden war aus der Felsnische, sondern sie vielmehr gerade fachmännisch untersucht hatte, mit allerlei Gerät und mit viel bergsteigerischer Sachkunde. Im Inneren des Hubschraubers wartete Johann Ostler schon auf ihn. Mit festem berglerischem Griff hatte er ihm hineingeholfen.
    »Und?«, schrie Ostler gegen den Höllenlärm an.
    »Gleiches Schema!«, schrie Stengele zurück. »Gleiches Schema wie bei dem anderen Fund.«
     
    Nachdem der Hubschrauber weggeflogen war und sich in der Wand nichts mehr regte, verlief sich die Menge, die meisten strömten wieder nach unten ins Tal, zurück blieb die ehedem saftige Greininger-Wiese, die jetzt deutliche Gebrauchsspuren aufwies: Viele der Schaulustigen hatten ihre Zigaretten auf dem Boden ausgedrückt, Voyeure sind in den meisten Fällen auch Raucher.
     
    Die meisten der Gaffer hatten zwar keinen direkten Blick auf den Fundort der Frau erhaschen können, sie hatten nur den Anflug des Hubschraubers und den Abtransport der Leiche beobachtet. Aber die Phantasie ergänzte das Fehlende. Die Felsnische selbst war nur zu sehen, wenn man die Bergwiese verließ, ein paar geröllübersäte und abschüssige Muren überwand, um schließlich auf eine frei stehende Felsnadel zu klettern, die zweihundert Meter von der Greininger-Wand entfernt in den Himmel stach und einen schwer zugänglichen, aber letzten Endes hervorragenden Beobachtungsposten abgab. Nur ein paar Leute waren bis hierher durchgedrungen, sie hatten die Stellung noch nicht aufgegeben, sie beobachteten das Geschehen fachkundig. Gerade fotografierten und filmten sie zwei Polizisten in Zivil, die unten am Bergfuß der Greininger-Wand, gut achtzig Meter unterhalb der Felsnische, standen und sich über einen altmodisch anmutenden Rucksack beugten.
     
    »Sehen Sie mal unauffällig da hinüber«, sagte Jennerwein zu Nicole Schwattke. »Haben wir immer noch Publikum?«
    »Ja, ein paar Gestalten hängen noch rum auf dem kleinen Aussichtsberg«, sagte Nicole. »Sie haben es wohl nicht so gern, Chef, wenn Ihnen Leute auf die Finger sehen?«
    »Das stört mich eigentlich weniger. Und bei manchen Tatorten kann man es auch nicht vermeiden, dass viele Leute zusehen. Wir können ja schlecht das ganze Wetterstein-Gebirge sperren lassen. Nein, ich habe aus einem anderen Grund gefragt.«
    »Ich kann es mir schon denken«, sagte Nicole eifrig. »Vielleicht hat jemand von da drüben aus etwas gesehen. Die Vorbereitungen zur Tat zum Beispiel, ohne dass ihm das bewusst war. Wir sollten das mal nachprüfen.«
    »Ja, sagen Sie Ostler Bescheid. Aber irgendwelche brauchbaren Spuren werden wir wohl nicht mehr finden – nach diesem Massenansturm.«
    »Vielleicht ist ja sogar der Täter selbst –«
    Nicole schrie auf, ihr Gedanke wurde jäh abgeschnitten. Hölleisen war zwei Meter neben ihr auf den Boden gesprungen, als wäre er vom Himmel gefallen.
    »He, passen Sie doch auf. Das ist Beweismaterial!«
    Hölleisen schälte sich aus seinem Kletterzeug. Er war die Strecke von der Felsnische bis hierher nochmals abgeklettert, um nach Spuren zu suchen.
    »Tut mir leid. Ich habe den Rucksack nicht gesehen.«
    »Und?«
    »Nichts«, sagte Hölleisen. »Von der Felsnische bis hier unten: weder Kletterspuren an der Wand noch hängengebliebene Gegenstände. Sonst ist alles wie beim letzten Mal. In der Mitte der Höhlendecke gibt es ein Loch, der Haken ist herausgerissen, das Opfer wurde damit angekettet. Von der Nische geht es dreißig Meter nach oben zu einem Standplatz, von da aus hat sich jemand abgeseilt. Ein schwerer Mensch. Oder ein Mensch, der eine schwere Last zu transportieren hatte. Dasselbe Schema wie beim ersten Mal.«
    »Aber sehen Sie mal, was wir hier haben!«, rief Jennerwein. Er zog mit der behandschuhten Hand ein kleines, mattglänzendes Kästchen aus der Außentasche des Rucksacks.
    »Was wird das sein?«, fragte Nicole.
    »Eine Schmuckdose?«
    »Ein Döschen Lippenbalsam?«
    »Eine bergsteigerische Notration in Form von Traubenzucker?«
    Jennerwein nahm das Kästchen in die eine Hand und öffnete es mit den Fingerspitzen der anderen, so langsam und vorsichtig, als wäre es die Büchse der Pandora und alle Übel der Welt wären noch drinnen. Eitelkeit. Missgunst. Völlerei. Unzucht. Herrschsucht. Mordlust.
    »Libera nos ab

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