Niedertracht. Alpenkrimi
chaotische Gewirr von krabbelnden und sich gegenseitig betastenden Insekten gut zu sehen.
»Ein paar davon habe ich markiert, mit verschiedenfarbigen Punkten. Das sind die Kundschafter. Sie zeigen uns an, wo sich das Beuteobjekt gerade befindet, welchen Weg es gegangen ist, mit welcher Geschwindigkeit, in welcher Höhe. Die Kundschafter richten sich immer nach dem Sonnenstand.«
»Und wenn keine Sonne scheint?«
»Sie können die Sonne auch orten, wenn der Himmel wolkenverhangen ist. Und wenn ich das alles nachzeichne und mit einer guten Wanderkarte vergleiche, kann ich erkennen, wo das Beutetier ist.«
»Die Insekten nehmen sich nur
ein
Beutetier vor?«
»Ja, nur eines, und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Die schwierigste Arbeit ist der Biss selbst. Um eine Wunde zu öffnen, sind Hunderte von Versuchen nötig, die für die Mücken alle im Mückenhimmel enden. Da das so aufwändig ist, bleiben sie meistens bei einem Beutetier, wenn sie eine Bohrstelle aufgetan haben. Erst wenn das Blut des Tieres ihren Anforderungen nicht mehr genügt, suchen sie sich ein neues.«
»Wenn wir sie auf ein bestimmtes Objekt hinleiten wollen, wie machen wir das?«
»Wir lassen ein paar der Kundschafter an einer Geruchsprobe des zukünftigen Objektes schnuppern, an ein paar Haaren, an Blut, zur Not auch an Kleidungsstücken. Dann verbinden wir das mit einem starken Anreger wie zum Beispiel Kakteensaft.«
»Und dann nimmt die Mücke wie ein Hund Witterung auf?«
»Ja, so ähnlich. Es fliegen allerdings immer mehrere hin. Sie bilden eine Kette, verständigen sich wahrscheinlich über Duftstoffe untereinander. Diese Sprache können wir natürlich nicht verstehen. Aber hier auf ihrem Stein tanzen die Kundschafter ihren Schwänzeltanz. Und wenn man den nur halbwegs lesen kann, kann man ihnen ein paar ihrer Geheimnisse entlocken, wenn auch beileibe nicht alle.«
»Bis zu welcher Entfernung bilden die Viecherl diese Geruchskette?«
»Das ist eine der erstaunlichsten Tatsachen. Zwanzig, dreißig Kilometer scheinen für die Mücken kein Problem zu sein. Ich schätze aber, dass sie ein Wirtstier noch viel weiter lokalisieren können.«
Schratzenstaller betrachtete das scheinbar chaotische Knäuel liebevoll. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er die schwebende Masse gestreichelt.
»Wir haben ja zurzeit einen Wirt da draußen, auf den ich sie angesetzt habe.«
»Ja freilich, den Bergsteiger, diesen Winterholler.«
»Schau her, ein paar der markierten Kundschafter sind gerade durch die Schleuse hereingekommen. Sie beginnen sofort mit ihrem Tanz.«
»Ich sehe hier nur ein einziges Gewusel, sonst nichts«, sagte Swoboda.
»Du kannst ja auch nicht Mückisch. Wobei auch ich nur Grundkenntnisse im Mückischen habe. Sie tanzen immer im Verhältnis zum Sonnenstand.«
Schratzenstaller streckte einen Arm schräg nach oben, Richtung Sonne, die andere Hand geradeaus, er stand jetzt da wie ein Verkehrspolizist.
»Da steht die Sonne jetzt, der Kundschafter hat nach Nordosten gezeigt, die Richtung haben wir schon. Die Entfernung berechnet sich aus den Achter-Kreisen, die er läuft. Ein Achter entspricht etwa neunhundert Metern.«
Schratzenstaller wies auf eine Karte des Werdenfelser Talkessels und fuhr mit dem Bleistift darauf herum.
»Hier ist unser Standpunkt, diese Richtung hat die Mücke angegeben, es sind etwa zwei Kilometer: Unser Objekt befindet sich also gerade in der Waxenstein-Wand. Und wenn du das mit der Anweisung vergleichst, die er bekommen hat, wirst du sehen, dass es fast auf den Meter und fast auf die Minute stimmt.«
Swoboda war beeindruckt. Die Werdenfelser Kriebelmücken hatten Winterholler immer brav lokalisiert. Bei nahen, einfachen Wanderungen, bei gebirgigen Klettertouren, auch wenn er zu Hause blieb, sogar bei einem Ausflug ins zwanzig Kilometer entfernte Ehrwald – immer konnten die sechsfüßigen Kundschafter seinen Aufenthaltsort lokalisieren.
»Jetzt kommt aber das eigentlich Interessante«, sagte Schratzenstaller und zog ein paar Aufzeichnungen heraus. »Letzte Woche haben wir doch den Winterholler in die Loifenwand geschickt. Die Tiere haben das, wie immer, bestätigt, wenn ich das so sagen darf.«
Schratzenstaller wies stolz auf die Karte. Dann nahm er einen Bleistift und zeigte auf einen markierten Punkt.
»Hier aber, bei den Vierthaler Höhen, weicht Winterholler von der vorgeschriebenen Route ab und klettert zu einem bestimmten Punkt. Es ist eine ziemlich unzugängliche Steilwand. Genau
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