Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
Vom Netzwerk:
atmeten. Jennerwein löste sich etwas von ihr.
    »Maria, hören Sie mir zu. Bevor wir die Plätze tauschen, brauche ich noch einige Kleidungsstücke von Ihnen. Hören Sie, es ist wichtig.«
    »Bitte, lassen Sie mich vorbei!«
    Maria bestand nur aus diesem einen Satz, ihre Stimme klang schon heiser und rau vom vielen Schreien. Ihr Gesicht war rot angelaufen, und ihre Augen traten hervor. Jennerwein musste sie schnellstmöglich beruhigen. Er strich ihr übers Gesicht und massierte ihre Schläfen. Maria war ein äußerst verstandesfixierter Mensch, vielleicht klappte es mit dem Prinzip der
Verwissenschaftlichung
.
    »Maria!«, schrie er sie an. »Maria!«, flüsterte er. »Versuchen Sie mir bitte zu erklären, was Höhenangst bedeutet. Sprechen Sie mit mir, geben Sie mir einen kurzen Überblick über die aktuelle Forschungslage, was weiß ich. Sie sind Wissenschaftlerin, Sie sind die einzige Wissenschaftlerin hier, nur Sie können mir das erklären!«
    Die Vernunft gewann Überhand bei Maria Schmalfuß.
    »Spezifische Phobie … phobische Reaktionen …«, stieß Maria heraus, »… isolierte Phobie … Kennziffer F40.2 … Akrophobie …«
    Jennerwein sah, dass sie sich ein wenig beruhigt hatte. Er war ihr so nah, dass er ihren Herzschlag spürte. Ihr Atem ging langsamer, sie entspannte sich. Maria hatte die spinnendünnen Beine um Jennerweins Hüfte geschlungen, und ihre Hände waren in seinem Nacken verkrallt. Er griff hinter sich und versuchte ihre Finger zu lösen. Er hatte den Eindruck, dass sie in diese Höhle hineingestopft worden waren, so fühlte es sich jedenfalls an. Der Täter musste über einige Leibeskräfte verfügen. Oder – sie waren zu zweit.
    »Ich werde Ihnen die Strickjacke ausziehen«, sagte Jennerwein. »Sprechen Sie weiter mit mir, erklären Sie mir, was für Symptome bei einem Anfall von Höhenangst zu beobachten sind.«
    »Beschleunigter Herzschlag …«, keuchte sie. »Blutdruck, Muskeltonus und Körpertemperatur steigen … Die Bartholinschen Drüsen schwellen an … Es kommt zum klinischen Bild einer akuten Schockreaktion … Stockender Atem … Schreckstarre … Ohnmacht …«
    Jennerwein zog den Reißverschluss ihrer Jacke nach unten, er hatte einige Schwierigkeiten, ihn ganz aufzubekommen, von der ungewohnten anderen Seite her.
    »Was tun Sie da!«, schrie Maria, inzwischen schon ganz heiser vor Angst. Doch Jennerwein hatte es jetzt geschafft. Mit beiden Händen griff er ihr vorsichtig an die Schultern und streifte ihr die Sommerjacke ab. Sie zitterte.
    »
Der Weg durch die Angst
, Oldenbourg, 1993«, winselte sie. »Standardwerk von Professor Heemagen …«
    »Jetzt das Hemd. Es dauert nicht mehr lange«, flüsterte er. »Ich ziehe Ihnen das Hemd aus, dann die Hose. Denken Sie an die Worte von Stengele. Ich werde versuchen, aus unseren Kleidern eine Kletterhilfe zu machen und die Lage dort draußen erkunden. Sie können hier in der sicheren Höhle bleiben.«
    »Halten Sie mich ganz fest, Hubertus.«
    »Ja, das tue ich«, sagte Jennerwein und öffnete den Reißverschluss ihrer Hose. Der zitternden und bebenden Maria die engen Jeans auszuziehen, war erheblich schwieriger als bei der Oberbekleidung, die er sorgsam in eine Ecke gestopft hatte.
    »Sie müssen jetzt mithelfen und Ihren Hintern etwas anheben.«
    »Blick durch den Glasboden des Canadian National Tower in Toronto … dreihundertzweiundvierzig Meter direkt nach unten …«, keuchte Maria und stemmte sich ab. Jennerwein hatte große Mühe, ihr die Beinkleider abzustreifen. Auch die Jeans stopfte er in die Ecke. Jetzt kam der schwierigste Teil der Aktion, sie mussten sich aneinander vorbeiquetschen. Sie begann wieder zu stöhnen, er musste sie ablenken.
    »Was haben Sie da am Bein, Maria?«
    »Eine Narbe.«
    »Erzählen Sie mir davon.« Bei Verhören funktionierte dieses Ablenkungsmanöver. »Erzählen Sie mir, wie Sie sich diese Narbe zugezogen haben!«
    Der Wind pfiff jetzt stoßweise und kalt zur Höhle herein, Jennerwein nahm an, dass sie sich in erheblicher Höhe befinden mussten.
    »Was ist mit dieser Narbe?«, setzte Jennerwein sein Ablenkungsmanöver fort und umfasste Marias Nacken, um sie ein wenig mehr ins Innere der Höhle zu ziehen.
    »Als Kind … wollte ich es einem Nachbarjungen zeigen. Bin auf einen Baum geklettert … viel zu hoch …«
    Jennerwein zog ihren Kopf ganz nah zu sich heran, verlagerte seine eigene Position in eine noch unbequemere, und so drehten sie sich, so gut es ging, um sich

Weitere Kostenlose Bücher