Niedertracht. Alpenkrimi
oben im ersten Stock, mit direktem Blick auf die Auffahrt. Neugierig wie alle Pensionswirtinnen, Herbergsväter und Concierges dieser Welt nun mal sind, hatte sie von dort oben beobachtet, wie das Auto der Psychologin langsam auf den Parkplatz gerollt war. Der Motor wurde ausgestellt, dann hatte der schäbige alte Citroën eine Weile dagestanden. Was hätte sie darum gegeben, einen Blick ins Innere des Wagens zu werfen. Die Pensionswirtin seufzte. So eine nette Frau! Schon Dutzende von Malen hatte sie den Kommissar hierhergebracht, um ihn dann bloß abzuladen, nichts weiter. Sie wären so ein schönes Paar gewesen! Doch diesmal war ihr berühmter Gast nicht ausgestiegen. Der Motor wurde wieder gestartet, das Auto fuhr ruckelnd an, wendete umständlich und setzte sich in Richtung des Waldwegs am Köhlerbichl in Bewegung. Die Pensionswirtin seufzte nochmals. Endlich. Vielleicht gingen sie ein bisschen spazieren, lustwandelten Hand in Hand durch den nachmittäglichen, sommerlichtdurchfluteten Köhlerwald. Sehr romantisch. Mit einem Gast war auch sie einmal dort hinaufgegangen. Vor Jahren. Das Telefon klingelte und riss sie aus ihren leise dahinpilchernden Gedanken.
»Gästehaus Edelweiß. Ach, Sie sind es, Frau Kommissarin Schwattke. Nein, der ist nicht da. Das heißt: Der war da. Gerade eben. Die beiden sind nochmals weggefahren.«
»Sie haben keine Nachricht hinterlassen?«
»Nein, sie sind gar nicht ins Haus gekommen.«
Sonderbar, dachte Nicole, das ist gar nicht die Art vom Chef, das Telefon einfach ins Leere klingeln zu lassen. Und auch die Psychologin war nicht zu erreichen.
»Lassen Sie mich um Gottes Willen vorbei!«, schrie Maria. »Machen Sie Platz, ich will innen rein an die Wand!«
Jennerwein begriff nichts. Blinzelnd öffnete er die Augen, er wusste nicht, wo er sich befand. Langsam schälte er sich aus einem Traum heraus. Er versuchte sich etwas aufzurichten, doch das funktionierte nicht so recht, sein Arm war festgebunden. Hatte er wieder einen Anfall gehabt? Nein, ein Anfall fühlte sich anders an. Wo war er? Was war hier los? Und warum war Maria so dicht neben ihm? Sie klammerte sich an ihm fest, rüttelte an ihm herum. Maria schrie ihm nochmals etwas Unverständliches ins Ohr. Er kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf, Marias Gesicht war in Kussnähe. Warum schrie sie so? Mit der anderen Hand schien sie auf einen Punkt über sich zu zeigen, Jennerwein richtete seinen Blick dorthin. Maria und er waren mit einer Hand dort oben an der niedrigen Decke angekettet. Jennerwein war mit einem Schlag hellwach. Sie hockten beide dicht aneinandergekauert in einer Höhle, in einem felsigen kleinen Loch, in genau solch einer Nische, in der die beiden bisherigen Opfer gelegen hatten. Jennerwein blickte hastig um sich. Die Höhle war nicht größer als zwei mal zwei Meter, die Decke war so niedrig, dass man sich nicht aufrichten konnte. Er kauerte im Inneren, an der Wand, Maria war außen, gefährlich nahe am Rand der Höhle, mit dem Rücken zur Öffnung. Der Boden der Höhlung war leicht abschüssig – nach außen! Halb lag sie auf ihm, halb kniete sie auf ihm.
»Ich halte das nicht aus. Ich habe den Fehler gemacht, nach draußen zu schauen«, kreischte sie. »Mir geht es überhaupt nicht gut.«
Ein Krampf schüttelte sie, sie boxte ihn jetzt schmerzhaft in die Brust.
»Maria, atmen Sie tief durch. Versuchen Sie, sich bequem hinzusetzen. Machen Sie eine Konzentrationsübung. Mit Yijing-mu und Spucke –«
Maria lachte nicht. Sie japste und keuchte, auch von
tief durchatmen
konnte keine Rede sein.
»Lassen Sie mich ins Innere hinein«, schrie sie.
Jennerwein packte sie mit der freien Hand an einer Schulter und rüttelte sie.
»Ich weiß, dass Sie Höhenangst haben, Maria«, sagte er mit so ruhiger Stimme, wie es ihm möglich war. »Ich weiß es schon seit einiger Zeit. Wir kommen da wieder raus, das verspreche ich Ihnen. Wir machen es so: Ich schiebe Sie an mir vorbei, nach dort hinten. Sie sind dann in einer sicheren Position. Lassen Sie mich jetzt vorsichtig los und richten Sie sich auf, soweit es geht.«
Maria lockerte ihre Umklammerung, Jennerwein konnte dadurch an die Decke greifen und die beiden Karabiner aufschrauben. Er schüttelte seine Hand aus, Maria hatte die Befreiung gar nicht bemerkt. Sie lag jetzt ganz auf ihm und brabbelte unverständliches Zeug. Sie presste den Kopf auf seine Schultern und wimmerte und stöhnte. Beide klebten so eng aneinander, dass sie gemeinsam
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