Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
habe es gefunden, und zwar tatsächlich als eine Seltene Erde, die an die Stelle 72 des Periodensystems passen würde. Er nannte das neue Element Keltium. »Es ist nicht zu bezweifeln«, war damals in den Fachzeitschriften zu lesen, »dass das Element mit der Ordnungszahl 72 Keltium ist, das damit einen festen Platz unter den chemischen Elementen einnimmt.«
Nach Bohrs Verständnis der Elektronenschalen konnte das Element 72 aber nicht zu den Seltenen Erden gehören. Seine Quantenzahlen erlaubten nur Elementen mit Ordnungszahlen zwischen 57 (Lanthan) und 71 (Lutetium), zu den Seltenen Erden zu gehören, danach musste sich durch ein zusätzliches Elektron in der Atomhülle unvermeidlich eine neue chemische Qualität zeigen. War das Element 72 wirklich eine Seltene Erde, dann konnte Bohrs Theorie nicht stimmen.
Doch Bohr dachte nicht daran, seine Theorie aufzugeben. Stand sie auch auf wackligen Füßen, so lieferte sie doch zutreffende und
elegante Erklärungen. Also bezweifelte er die experimentellen Befunde, selbst wenn sie sich als Tatsachen herausstellten. Er beriet sich mit Dirk Coster, einem holländischen Physiker, und George de Hevesy, einem ungarischen Chemiker, die beide an Bohrs Institut in Kopenhagen forschten, und 1923 gelang es den beiden, das wirkliche Element mit der Ordnungszahl 72 nach den Vorgaben von Bohrs Theorie zu finden. Sie gaben ihm folglich den lateinischen Namen von Bohrs Heimatstadt.
Das in der Erdkruste reichlich vorhandene Hafnium vermag es, bei Verbindungen mit Sauerstoff einen höchst effektiven elektrischen Isolator hervorzubringen. Diese Verbindung lässt viel weniger unerwünschten Strom passieren als Siliziumoxid und transportiert Informationen zuverlässiger. Hafnium gehört im Verständnis der Chemie in die Gruppe der Übergangsmetalle und sollte mit seinen von Bohr prognostizierten Eigenschaften bald noch eine bedeutende Rolle spielen. Mithilfe des Hafniums konnten Transistoren um die Hälfte verkleinert und ihre Größe von 65 Nanometer auf 32 Nanometer geschrumpft werden. Das Übergangsmetall wird manchmal sogar als »Wundermetall des Atomzeitalters« bezeichnet, weil es die Kettenreaktionen in einem Atomkern abbremsen kann. Aber zu dem Zeitpunkt, als es in das Periodensystem eingefügt wurde, war dies noch Zukunftsmusik.
Das Jahr der Nobelpreisverleihung
Eine genaue Untersuchung zeigte, »dass die Annahme, das Element mit der Atomnummer 72 weise entsprechende chemische Eigenschaften auf wie die Seltenen Erden, eine Änderung in der Festigkeit der Elektronenverbindung mit der Atomnummer fordern würde, die mit den allgemeinen Forderungen der Quantentheorie unvereinbar scheint«. So sprach Bohr am Ende seiner langen Rede, die er am 11. Dezember 1922 in Stockholm halten durfte, als ihm der Nobelpreis für Physik überreicht wurde. Es fällt auf, dass Bohr den behaupteten Nachweis eines nicht existierenden Elements vornehm
und rücksichtsvoll, wie es seine Art ist, als »Annahme« akzeptabel macht, die sich möglicherweise wiederlegen lässt.
In seiner Rede erläuterte Bohr ausführlich seine Kenntnisse »Über den Bau der Atome« und riskierte es noch vor dem Abschluss der Versuche von Coster und Hevesy, die Überlegenheit der Theorie gegenüber dem experimentellen Befund zum Keltium zu verkünden – dank der Qualität der Theorie kam hier ein neues Selbstbewusstsein in die Physik, dem die traditionelle Logik der experimentellen Forschung nur schal und bedeutungslos vorkam. Diese Souveränität der theoretisch geleiteten Wissenschaft repräsentierten bis zu diesem Jahr vor allem Wissenschaftler wie Planck, Einstein und Bohr. Ihre Nachfolger saßen aber schon auf den Bänken in den Hörsälen; zu ihnen gehörte der einundzwanzigjährige Werner Heisenberg, der im Jahr der Nobelpreisverleihung von München nach Göttingen gekommen war, um den siebenunddreißigjährigen Bohr zu erleben. Dieser hielt im Sommer 1922 in der niedersächsischen Universitätsstadt sieben Vorträge von jeweils zwei Stunden Dauer über seine Theorie vom Atombau – ein Ereignis, das als »Bohr-Festspiele« in die Geschichte der Wissenschaft eingegangen ist. Und es gibt für diese Bewertung nicht nur wissenschaftliche, sondern auch politische Gründe, schließlich war Bohr – nach dem Grauen des Ersten Weltkriegs – der erste ausländische Gast in Deutschland, der sich auf eine Zusammenarbeit mit den dortigen Physikern einließ und die noch verbliebenen Feindseligkeiten in offenen Gesprächen abbauen
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