Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
beziehungsweise ihre Elektronenschalen vollständig zu füllen.
Element 72
Als Bohr sich methodisch und systematisch mit seinen drei Quantenzahlen daranmachte, den Aufbau der chemischen Elemente aus physikalischen Kenntnissen der Elektronen in Atomen zu erklären, konnte er rasch die beiden leichten Gase Wasserstoff und Helium abhaken. Das nächste Element, Lithium, bekam ein drittes Elektron zugeteilt, das allein eine neue Schale besetzte oder eröffnete, die L hieß und noch Platz für ein zweites Elektron bot, das wiederum beim vierten Element, dem Beryllium, hinzukam. Zur L-Schale gehört in Bohrs Schema die Hauptquantenzahl 2, was Variationen in der Nebenquantenzahl erlaubt und neben den zirkulären Orbits noch Ellipsen für die Elektronen zulässt; dadurch ergeben sich zusammen sechs weitere Bahnen, also füllen insgesamt acht Elektronen die L-Schale, wenn sie voll ist. Dies trifft für das Element Neon zu, das sich schließlich völlig verändert, wenn seiner Hülle ein weiteres Elektron hinzugefügt wird. Dieser Neuzugang muss sich eine neue Schale suchen, und das einsame Elektron harrt reaktionsfreudig
auf das Eintreffen anderer Elektronen. Aus einem trägen Gas – Neon – ist auf diese Weise ein empfindliches und vor allem nach den äußeren Elektronen von Sauerstoff gierendes Metall – Natrium – geworden, mit dem Bohr wiederum die Konstruktion einer neuen Periode einleiten kann.
Das klingt zunächst nicht nur kompliziert und schwer durchschaubar, es ist es auch, was einen umso mehr über die Sicherheit staunen lässt, mit der sich Bohr an den Elementen abarbeitete. Aber er wurde für seinen Mut belohnt und konnte wunderbare Erklärungen liefern. Indem er zum Beispiel – durch Abzählen der verfügbaren Quantenzahlen und ihrer Kombinationen – die vom Natrium eröffnete Schale, die M-Schale in der Rede der zeitgenössischen Chemie, erneut mit insgesamt acht Elektronen füllen konnte, gelang es Bohr auf erstaunliche Weise, dem oben angeführten Rätsel auf die Spur zu kommen, weshalb sich Periodenlängen als das Doppelte von Quadratzahlen berechnen lassen. Er konnte nicht nur die frühe Periodenlänge 8–2 mal 4 –, sondern auch die nachfolgende Periodenlänge 18–2 mal 9 – verständlich machen.
Selbst wenn dieses Hantieren mit kleinen Zahlen nicht wie große Wissenschaft daherkommt, wird man anerkennen müssen, dass hier Physik auf ungewöhnliche Weise betrieben wird. Zudem glückt hier etwas Außerordentliches: die Erklärung von stofflichen und natürlichen Qualitäten – etwa die Eigenschaften und die Unterschiede von Neon und Natrium – durch schlichte Zahlen, also durch Quantitäten. Pythagoras würde jubeln.
Und Bohr gelang darüber hinaus sogar noch etwas höchst Ungewöhnliches, und es ist anzunehmen, dass es vor allem dieser Erfolg war, der seine Zeitgenossen erstaunte und von seinem eigenwilligen Vorgehen mit den Quantenzahlen und dem Beharren auf atomaren Gestalten überzeugte – obwohl in diesem Stadium der Entwicklung noch niemand anzugeben in der Lage war, wie die Grundlagen seiner Theorie zustande kommen und abgeleitet werden konnten. Als er sein Aufbauprinzip zu Beginn der 1920er Jahre immer weiter trieb und sich an Atome mit einer immer größeren Anzahl von Elektronen und Protonen wagte, traf er auf Probleme,
die mit denjenigen der Väter des Periodensystems nach 1869 vergleichbar waren. Es gab in der Ordnung Platz für Elemente, deren Eigenschaften man zwar in der Theorie ableiten und vorhersagen konnte, die aber in der Wirklichkeit noch nicht gefunden waren. Nach und nach schlossen sich zwar einige Lücken – und zum Glück stets so, wie es vermutet und prognostiziert worden war –, aber einige offene Stellen gab es immer noch. Bohr konzentrierte sich hierbei auf das Element mit der Ordnungszahl 72, das es 1921 neben den Elementen mit den Ordnungszahlen 43 und 61, die heute Technetium beziehungsweise Promethium heißen und die 1945 und 1937 zum ersten Mal isoliert und beschrieben wurden, noch zu finden galt.
Es gab damals noch mehrere Möglichkeiten, die Atome mit zunehmender Größe in das Periodensystem einzubauen, und die meisten Chemiker vermuteten, dass das noch fehlende und gesuchte Element 72 zu der Gruppe der Seltenen Erden gehörte (dieser Name ist irreführend; verständlicher wäre es, von Metallen der Seltenen Erden zu sprechen, da es sich um Metalle handelt, die in der Erdkruste anzutreffen sind). Im Mai 1922 verkündete ein französischer Chemiker, er
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