Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
die Welt wissen kann, und die mathematische Fassung dieses Vorhabens gelingt mit Gebilden, die mehr als eine reale Dimension haben. Pointiert formuliert: Heisenberg entdeckte, dass die grundlegenden Gesetze der Natur in Abhängigkeiten zwischen Größen bestehen, die es nicht in der realen, sinnlich zugänglichen Natur gibt. Unsere Wirklichkeit entsteht nicht aus dem Raum unserer Anschauung, sondern aus einer Sphäre heraus, die zwar an unsere Lebenswirklichkeit anschließt und wenigstens Kontakt mit ihr hält, darüber hinaus aber ihre eigene Dimension hat, die man mit dem inneren Auge erblicken und, wenn man sie beschreiben soll, als Tiefe oder Höhe kennzeichnen kann.
Heisenberg schildert selbst in seiner Autobiographie Der Teil und das Ganze, was in ihm und um ihn herum vorgegangen ist, als er ganz allein und nur aus innerem Antrieb heraus der Physik ein völlig neues Ansehen und Aussehen geben konnte. Sein Tagesablauf sah dabei wie folgt aus: »Geschlafen hab’ ich eigentlich gar nicht«, so hat er seinem baldigen Freud und späteren Schüler Carl Friedrich von Weizsäcker erzählt, »ein Drittel des Tages habe ich die Quantenmechanik ausgerechnet, ein Drittel bin ich in den Felsen herumgeklettert, und ein Drittel hab’ ich Gedichte aus dem West-östlichen Divan auswendig gelernt.«
Vielleicht hat Heisenberg die wohl berühmteste Zeile aus Goethes Lyriksammlung – »Dieses: Stirb und werde! « aus dem Gedicht »Selige Sehnsucht« – im Sinn gehabt, als er alles riskierte, um die Atome zu verstehen. Er musste nämlich die alte Theorie endgültig sterben lassen, um Platz für die neue zu schaffen, die dieses Attribut auch verdiente. Heisenberg näherte sich dabei der inneren Flamme, die er als die zentrale Ordnung erkannte. Ihr galt seine Sehnsucht.
Eine zweite Form der Quantenmechanik
Nachdem Heisenberg mit Max Born Rücksprache gehalten, seine Überlegungen veröffentlicht hatte und mit seiner Erfindung auf Vortragreise ging, gab der österreichische Physiker und Wissenschaftstheoretiker Erwin Schrödinger (1887–1961) eine Reihe von Arbeiten heraus, die der noch jungen Quantenmechanik ein zweites Gesicht verliehen. Schrödinger war Professor für Theoretische Physik in Zürich; er fühlte sich aber im Grunde mehr als Philosoph denn als Naturwissenschaftler, und es bedurfte eines besonderen äußeren Anlasses, um ihn dazu zu bewegen, sich ernsthaft mit den Problemen der Atome zu beschäftigen. Den Anlass bot ihm Heisenbergs Ansatz, den Schrödinger entsetzlich fand. Ihn widerte an, dass die »verdammte Quantenspringerei« zum entscheidenden Merkmal der Physik werden sollte, und dieser Ärger machte ihn kreativ. Im Winter 1925/26 fuhr er zum Skilaufen nach Arosa, und im Verlauf dieses Aufenthalts brachte er den ersten Entwurf der Gleichung zu Papier, die heute als Schrödinger-Gleichung bekannt ist und für Schrödingers Weltruhm als Begründer der Quantenmechanik gesorgt hat.
Woher rührte Schrödingers Abscheu vor der »Quantenspringerei«? So wie Heisenberg unerschütterlich an die Konstanz der Energie glaubte, als er seinen Durchbruch erzielte, vertraute Schrödinger fest und unbeirrt der Vorstellung, dass in der Natur alles kontinuierlich und stetig vor sich geht. Nun ließ sich natürlich nicht leugnen, dass ein Atom Licht nur mit präzise festliegenden Energiewerten ohne Zwischenstufen aussendet. Das zeigten überdeutlich die Spektrallinien. Wer ohne Quantensprünge auskommen wollte, musste die Lücken zwischen diesen Linien erklären, und zwar mit klassischen Vorstellungen. Schrödinger stellte sich diese Aufgabe, und Anfang 1926 meinte er, sie gelöst zu haben. Er präsentierte eine Wellengleichung, eben die Schrödinger-Gleichung, die das Verhalten von Elektronen in Atomen beschreiben sollte. Das Elektron, vorgestellt als ein winziges Etwas, sollte eine stehende Welle sein, deren Schwingen sich so verändert, wie es zum Beispiel die Saite
einer Violine beim Spiel tut. Dabei entströmen einer kontinuierlichen Saite bekanntlich diskrete Töne – ein A oder ein D etwa –, und gleicherweise sollte sich das Elektron verhalten: ein kontinuierliches Bewegen mit festen Stationen.
Tatsächlich hat Schrödinger entdeckt, dass sich die atomare Realität durch Wellenbewegungen und die dazugehörigen Gleichungen erfassen lässt, aber er hat sehr lange gebraucht, um seine eigene Leistung und damit das zu verstehen, was er wirklich gefunden hat: eine Gleichung, die eine Wellenbewegung in Räumen mit
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