Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
zwei Öffnungen durchlaufen, dann wird auf einem Schirm hinter dem Doppelspalt ein Hell-Dunkel-Muster erkennbar. Dies kann so gedeutet werden, dass die beiden Öffnungen als Ausgangspunkte von zwei Lichtwellen dienen, die sich je nach Ort verstärken oder auslöschen. Dies ist alles noch verständlich. Unbegreiflich wird, dass dies ebenso mit Elektronen geschehen kann. Wenn ein Elektronenstrahl auf gleiche Weise durch einen Doppelspalt geführt wird,
kommt es ebenfalls zur Interferenz. Man muss also von Materiewellen so sprechen, wie man von Lichtwellen spricht.
Doch eine besondere Überraschung tritt ein, wenn das Experiment so durchgeführt wird, dass sich nur ein einziges Elektron in der Apparatur befindet. Auch dann findet eine Interferenz statt, wie ein Experiment deutlich gemacht hat, das zum ersten Mal zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchgeführt worden ist. Das einzelne Elektron wird auf der Rückwand durch die »Klicks« gezählt, die es in einer Verstärkerapparatur auslöst. Hier wird es als Teilchen registriert. Es muss aber den Doppelspalt als Welle durchlaufen haben. Das Elektron (sein Ort) ist also unbestimmt, solange er (der Ort) nicht im Experiment bestimmt und damit – wörtlich betrachtet – festgestellt wird.
Die Physiker zu Bohrs Zeit mussten nach und nach aufgeben, das Schauspiel auf der atomaren Bühne mit anschaulich begründeten Begriffen aus dem Alltag zu beschreiben. Bohr selbst versuchte, diese völlig neue Situation mit seiner Idee der Komplementarität (lateinisch: »completum«; »das Ganze«) zu erfassen. Komplementarität bedeutete für Bohr, dass sich Erscheinungen auf der Ebene der Atome durch eine Doppelnatur auszeichnen. Und zwar treffen bei ihrer Beschreibung zwei Konzepte oder Bilder aufeinander – Welle und Teilchen –, die sich zwar widersprechen, aber zusammengehören. Die experimentellen Anordnungen, mit denen die jeweils komplementären Aspekte erfasst werden, schließen sich gegenseitig aus. Sie können also nie zeitgleich zum Tragen kommen.
Viele Jahre kreisten Bohrs Gedanken um die Idee der Komplementarität, die ihm die philosophische Lektion der Atome zu sein schien und die ihren Ausdruck in den beiden mathematischen Fassungen fand, die es von der Quantenmechanik gab. Natürlich war der Gedanke für viele Physiker ungewohnt, und deshalb bemühte sich Bohr angestrengt um die Klärung der Schwierigkeiten. Er tat dies vor allem im Winter des Jahres 1926/7, als Heisenberg sein Assistent war und in Kopenhagen wohnte. Beide müssen unentwegt und intensiv über die Interpretation der Quantenmechanik diskutiert haben, und bei den bis spät in die Nacht fortgesetzten
Gesprächen wurde Bohr nicht müde zu betonen, dass die neue Physik im Gegensatz zur alten Physik den Beobachter nicht ausschließe, sondern mit einbeziehe, und zwar nicht als notwendiges Übel, sondern als maßgeblichen Teil des wissenschaftlichen Unternehmens. Physik, so Bohr, handele nicht von der Natur, sondern vom Wissen, das wir als Menschen von der Natur haben. Wissenschaftler könnten nicht erfassen, wie die Natur wirklich ist, sondern nur, wie ihnen die Natur erscheint, da sie selbst zu dem Versuch beziehungsweise der Messung gehörten, die sie unternehmen.
Was Bohr damals dachte und sagte, erinnert zunächst an Heisenbergs Bemühen, in die Theorie der Atome nur messbare Größen einzuführen – also die Frequenzen und die Intensität des Lichts, das Atome aussenden, oder die elektrische Ladung eines Elektrons. Es erinnert darüber hinaus an die Vorstellungen, die Immanuel Kant von der Erkenntnis hatte. In seiner Kritik der reinen Vernunft führt er die berühmte Formulierung vom »Ding an sich« ein, das dem menschlichen Vermögen unzugänglich bleibt. Kant wies daraufhin, dass wir »von keinem Gegenstand als Ding an sich... Erkenntnis haben«, sondern ihn nur »als Erscheinung« – also mithilfe der sinnlichen Anschauung – erfassen können. Dabei setzt Kant voraus, dass jedes Ding an sich Eigenschaften hat, die es auszeichnen, nur leider steht für die Menschen kein Weg offen, sie zu ermitteln.
Genau diesen philosophischen Gedanken sollte Heisenberg in Kopenhagen widerlegen. Der populärste Ausdruck für das, was Heisenberg entdeckte, lautet »Unschärferelation«; im Englischen ist gerne von der »general uncertainty« die Rede, was man mit »allgemeiner Verunsicherung« übersetzen könnte – tatsächlich ist Heisenberg bei einem seiner Besuche in den USA als »General Uncertainty«, als
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