Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
sich vor allem an der Frage, warum Heisenberg seine Gedanken zur Veröffentlichung einreichte, bevor er sie mit Bohr abgesprochen hatte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Bohr unendlich geduldig diskutieren und sich tagelang an einzelnen Formulierungen aufhalten konnte. Nie
war er zufrieden, immer wieder wurde eine neue Schleife in die Linie der Gedanken geflochten, mit dem Ergebnis, dass Bohrs Texte nach und nach ein »Verbrechen am Lesepublikum« wurden, wie es Max Delbrück einmal ausgedrückt hat. Bohr strebte Sätze an, die niemand widerlegen konnte, und so blieb vielfach allzu dunkel und unklar, was erklärt werden sollte. Heisenbergs Sprache hingegen war klar, wobei dieser Vorteil sich nachteilig auswirken kann. Was er sagte und schrieb, wurde deshalb höchst anfällig für die Fehler, die Bohr unter allen Umständen vermeiden wollte.
Vielleicht hat Heisenberg Bohrs Urlaub genutzt, um den ihm unnötig erscheinenden Gedankenübungen auszuweichen, die seiner Ansicht nach nur verwässern konnten, was er längst klar vor Augen hatte: die Vorstellung von unbestimmten Dingen an sich am räumlichen Anfang der Welt. Fehler im Manuskript störten Heisenberg dabei nicht. Wahrscheinlich gibt es keine wissenschaftliche Publikation von ihm, in der er sich nicht ein paarmal verrechnet oder auf andere Weise vertan hat. Dies war allen bekannt und vor allem seinen Schülern vertraut. Sie wussten aber auch, worauf es ankam, nämlich auf das Ergebnis, und das war bei Heisenberg zumeist nicht nur richtig, sondern revolutionär.
Die Frühjahrstagungen
In dem von Bohr errichteten Haus der Wissenschaft fanden von 1929 an Zusammenkünfte statt, die entweder als »Physikertreffen«, als »Kopenhagen-Konferenz« oder als »Frühjahrstagung« bezeichnet wurden. Der Plan zu solchen Treffen war mehr oder weniger spontan gereift, und zwar als zu Beginn des Jahres 1929 plötzlich mehrere Physiker, die einmal mit Bohr zusammengearbeitet hatten, für die Osterferien ihren Besuch in Kopenhagen ankündigten. »Es passte zu Bohrs väterlicher Haltung, dass dieses zufällige Zusammentreffen der Besuche ihn dazu bewegen sollte, eine vollständige Familienkonferenz einzuberufen«, wie Léon Rosenfeld in Erinnerung an die erste Konferenz in Kopenhagen schreibt.
Der aus Belgien stammende Physiker gehörte viele Jahre hindurch zu Bohrs vertrauten Mitarbeitern, was bedeutete, dass er einer von Bohrs bevorzugten Gesprächspartnern war – wobei das Reden meist Bohr überlassen blieb und Rosenfeld oder jemand anderes die Aufgabe zu übernehmen hatte, die Gedanken, die dabei verständlich wurden, zu notieren. Solche einseitigen Dialoge stellten Bohrs bevorzugte Art des Arbeitens oder Nachdenkens dar. Er benötigte jemanden, den er ansprechen konnte und der ihm Anregungen geben konnte, von denen aus sich seine Gedanken erneut auf ihre Bahn machten, ohne jemals an einem Ziel – einem klaren Ausdrücken der Wahrheit – anzukommen. Für Bohr war, taoistisch gesprochen, der Weg das Ziel, und er führte eigentlich immer wieder an den Anfang zurück, der natürlich im Dunkel liegen blieb.
Da es um das Denken und seinen Weg auf der Suche nach einem Verständnis elementarer Gegebenheiten wie der Stabilität der Materie ging, also nicht um fertige Ergebnisse, sondern um ein Begreifen dieser Ergebnisse, legte Bohr fest, dass es auf der Frühjahrstagung kein striktes und strukturiertes Programm geben, sondern dass jeder Teilnehmer die Gelegenheit erhalten sollte, das Thema oder die Frage anzusprechen, die ihm gerade auf dem Herzen lag. Bohr, der es sich nicht nehmen ließ, die anreisenden Physiker persönlich am Bahnhof zu begrüßen, fragte jeden Einzelnen nach seinen Wünschen. Er selbst sprach beispielsweise auf der Tagung 1929 über den Spin von Elektronen und wunderte sich, ob und wie sich diese besondere physikalische Eigenschaft der Materie beobachten lasse.
Der Spin war in diesen Tagen insofern in aller Physiker Munde, da es im Jahr zuvor dem britischen Theoretiker Paul Dirac (1902 bis 1984) auf höchst elegante Weise gelungen war, die beiden großen neuen Gebiete seiner Wissenschaft, Einsteins Relativitätstheorie und Heisenbergs und Schrödingers Quantenmechanik, zusammenzuschnüren und in Form einer Gleichung zu präsentieren. Man spricht heute von der Dirac-Gleichung, mit deren Aufstellung die allgemeinen Grundlagen der Atomphysik vorliegen, die damals noch überprüft und verstanden werden mussten. Vermutlich drängten aus diesem Grund im
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