Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
Als Vorstellung legten sie das – heute zwar als verbesserungsbedürftig erkannte, damals aber äußerst hilfreiche – Tröpfchenmodell des Atomkerns von Bohr zugrunde, bei dem ein Kern wie ein Tropfen begriffen werden kann, der durch das Phänomen der Oberflächenspannung, mit der sich Bohr ja schon in jungen Jahren beschäftigt hatte, seine rundliche (mikroskopische) Form sowie sein (makroskopisches) Gegenstück beim Wasser bekommt. Über ihre Überlegungen schreibt Lise Meitner:
Wir kamen in der Diskussion zu folgendem Bild: Wenn in dem hochgeladenen Urankern – in dem durch die gegenseitige Abstoßung der Protonen die Oberflächenspannung stark vermindert ist – durch das eingefangene Neutron die kollektive Bewegung der Kerne genügend heftig wird, so kann sich der Kern in die Länge ziehen; es bildet sich eine Art Taille, und schließlich erfolgt die Trennung in zwei ungefähr gleich große, leichtere Kerne, die dann wegen ihrer gegenseitigen Abstoßung mit großer Heftigkeit auseinander fliegen. Wir konnten aus diesem Bild auch die dabei frei werdende Energie abschätzen.
Diese Energie war so gewaltig, dass die beiden Wissenschaftler zutiefst erschrocken waren und den Rest des Weges schweigend zurücklegten. Sie fassten ihre Überlegungen schriftlich zusammen und publizierten das Ergebnis ihres vorweihnachtlichen Gesprächs Anfang 1939 in englischer Sprache. Mit diesen Worten wurde die Spaltung von Atomkernen in der Welt bekannt und betrat die Bühne der Geschichte. Seinen wissenschaftlichen Namen bekam der Prozess in Kopenhagen: »nuclear fission«. Denn nachdem Meitners Neffe wieder zum Bohr’schen Institut zurückgekehrt war, fragte er einen dort tätigen Biologen, wie man in seiner Disziplin ausdrückt, wenn sich etwa die Chromosomen bei einer Zellteilung voneinander
absondern. »Spaltung«, lautete die Antwort, und seitdem spricht man von der Kernspaltung, wenn ein Atomkern unter Energiefreisetzung in zwei oder mehr Bestandteile zerlegt wird.
Selbstverständlich erzählte Otto Robert Frisch Bohr sofort von den Berliner Experimenten sowie Lise Meitners und seiner theoretischen Deutung. Es wird berichtet, dass Bohr ihm erst voller Konzentration und mit wachsender Erregung zugehört, sich dann mit der flachen Hand an die Stirn geschlagen und zuletzt ausgerufen habe: »Meine Güte, das ist doch so offensichtlich, warum sind wir hier denn nicht darauf gekommen ?«
Bohr bereitete sich Anfang des Jahres 1939 auf eine längere USA-Reise vor, die ihn am 16. Januar an Bord der MS Gripsholm nach New York brachte. Zwar hatte Frisch – auch im Namen von Lise Meitner – ihn dringend darum gebeten, die weitreichenden Gedanken zu den Atomkernen und ihrer Spaltbarkeit möglichst für sich zu behalten, um die entsprechende Publikation abzuwarten, aber Bohr konnte sich nicht beherrschen und sprach auf der Überfahrt mit seinen Mitarbeitern – etwa mit Léon Rosenfeld – über das neue, umwerfende Wissen. Er versäumte jedoch, seine Gesprächspartner zu bitten, strengste Verschwiegenheit darüber zu bewahren. Dies hatte zur Folge, dass zum Beispiel der amerikanische Physiker John A. Wheeler bereits einige Minuten nach der Begrüßung der europäischen Gäste über die Spaltung des Urankerns informiert war.
Die Kenntnis der Bedingungen, die zur Kernspaltung führen, erreichte bereits im Januar 1939 die USA; »die weitere Entwicklung ist bekannt«, wie Lise Meitner 1963 lakonisch bemerkte. Nachdem der Zweite Weltkrieg zu Ende und die erste Atombombe zum Einsatz gekommen war, schrieb sie Otto Hahn einen Brief, der seinen Adressaten leider nie erreichte. Darin macht sie ihrem ehemaligen Kollegen zwar persönlich keine Vorwürfe wegen der Entdeckung der Kernspaltung, sprach aber die Gräueltaten der Nationalsozialisten und das Wegschauen vieler Menschen seiner Generation an:
Das ist ja das Unglück von Deutschland, dass Ihr alle den Maßstab für Recht und Fairness verloren habt. Du hattest mir selbst im März 1938 erzählt, dass [man] gesagt hat, dass schreckliche Sachen gegen die Juden gemacht werden würden... Ihr habt auch alle für Nazideutschland gearbeitet und habt auch nie nur einen passiven Widerstand zu machen versucht… Du wirst Dich vielleicht erinnern, dass ich, als ich noch in Deutschland war, Dir oft sagte: Solange wir nur die schlaflosen Nächte haben und nicht Ihr, solange wird es in Deutschland nicht besser werden. Aber Ihr hattet keine schlaflosen Nächte. Ihr habt nicht sehen wollen, es war zu
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