Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
unbequem.
Die Spaltung von Uran
Als Lise Meitner in Schweden die Entwicklung ihrer Wissenschaft und der internationalen Politik nur abwarten und nichts dazu beitragen konnte, traf Niels Bohr an der amerikanischen Ostküste in dem legendären Institute for Advanced Studies ein, das in der kleinen Stadt Princeton, New Jersey, angesiedelt ist. Dort wollte er sich mit dem aus Florida stammenden John A. Wheeler (1911–2008) austauschen, einem der letzten Physiker aus der Generation, die dazu verholfen hat, den Weg ins Atomzeitalter zu bahnen, um mit ihm den »Mechanismus der Kernspaltung« zu diskutieren und zu verstehen. Und es ist Bohr und Wheeler in ihren Dialogen tatsächlich gelungen, hierzu entscheidend beizutragen. Der Zufall wollte es, dass die diesbezügliche Publikation der beiden Physiker im Fachblatt Physical Review genau am Tag des deutschen Überfalls auf Polen, am 1. September 1939, erschien. Mit diesem Überfall begann der Zweite Weltkrieg, an dessen Ende 1945 der militärische Einsatz der Kernenergie steht, die bei der von Bohr und Wheeler analysierten Spaltung von Uranatomen und ihren Kernen freigesetzt werden kann.
Bei ihren Überlegungen bemerkten Bohr und Wheeler zunächst, dass sie zwischen verschiedenen Formen des Urans, den
Isotopen, unterscheiden mussten. (Das aus dem Griechischen abgeleitete Wort »Isotop« bedeutet »gleicher Ort« und wird für Elemente benutzt, deren Atomkerne zwar verschiedene Mengen von Neutronen, aber gleich viele Protonen beherbergen, was sie im Periodensystem dieselbe Stelle – »isos topos« – einnehmen lässt.) Das Element Uran mit der Ordnungszahl 92 verfügt über 92 Protonen, zu denen sich im Normalfall 146 Neutronen gesellen, was insgesamt 238 Kernbausteine ausmacht und dem Element den Namen U-238 gibt. Wie die genaue Analyse von Geologen und Chemikern ergeben hatte, besteht das in Mineralien auftretende Uran zu mehr als 99,3 Prozent aus dem Isotop U-238. Den kleinen Rest teilen sich Uranatome mit weniger Neutronen – U-234, U-235 und U-236, wobei U-235 die fehlenden 0,7 Prozent fast allein abdeckt. Bohr und Wheeler konzentrierten sich auf diese beiden besonders häufigen Isotope, um herauszufinden, welches bei dem Neutronenbeschuss auf welche Weise gespalten worden war. Ihre Aufmerksamkeit wandte sich den Beobachtungen zu, die mit langsamen Neutronen gemacht worden waren. Ihre Kenntnis der möglichen Resonanzzustände von Uran erlaubte den Schluss, dass es das seltene Isotop U-235 war, das durch thermische Neutronen erst in Schwingungen versetzt und dann gespalten wird. Die zu diesem Uran gehörende ungerade Anzahl von Kernbausteinen brachte es mit sich, dass nach der Spaltung nicht alle Neutronen benötigt und während des Vorgangs zwei oder manchmal auch drei freigesetzt wurden. Neben den Spaltprodukten wie etwa dem von Hahn und Straßmann nachgewiesenen Barium entstanden Neutronen, die das fortsetzen konnten, was diese eben begonnen hatten, nämlich eine Kernspaltung.
Wenn aber ein Neutron zwei hervorbringt, dann können zwei die doppelte Anzahl, nämlich vier Neutronen auslösen, und die vier schicken acht auf die Reise, aus denen sechzehn, zweiunddreißig und immer mehr werden und wodurch das zustande kommt, was als Kettenreaktion bezeichnet wird. Mit ihr konnte in kürzester Zeit, wie die Physiker bald erkannten, eine enorme Menge an Energie freigesetzt werden. Als dieser physikalische Zusammenhang gerade verstanden worden war, hatte der Zweite Weltkrieg begonnen,
und die Wissenschaftler, die über Kettenreaktionen nachdachten und zumeist gut befreundet waren, arbeiteten plötzlich für Staaten, die erbittert verfeindet waren und gegeneinander kämpften – Deutschland und England zum Beispiel.
Die Berliner Beobachtung der Kernspaltung im Winter 1938/39 und das erste theoretische Verstehen der damit gegebenen Möglichkeiten im Lauf des Sommers 1939 riefen vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse in den folgenden Jahren vielfältige Aktivitäten bei den betroffenen Nationen hervor. In England wurde schon bald das MAUD- Komitee eingerichtet, dessen Name angeblich eine Abkürzung für »Military Application of Uranium Detonation« war, obwohl er in Wahrheit auf den Vornamen einer Hauslehrerin Bohrs zurückging. Sie hieß Maud Ray und wurde eigens in einem merkwürdigen Telegramm gegrüßt, das Lise Meitner im Mai 1940, kurz nach der Invasion von Dänemark durch deutsche Truppen, an einen britischen Physiker geschickt hatte, um über ein Treffen
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