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Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters

Titel: Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Peter Fischer
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geben. Mit dieser Vorgabe liegt die Herausforderung der abendländischen Kultur darin, ihr eigenes Symbol für das Denken zu finden, das das Individuum in der Welt und beide zusammenhält. Unsere Kultur muss dies bewusst tun und dabei das Beste aufbieten, das sie hat, nämlich die komplementären Formen der Erkenntnissuche, Kunst und Wissenschaft. Zusammen ergeben sie die Humanität, die unsere Kultur auszeichnen könnte. Aber diese Erfindung müssen wir noch machen. Sie wäre wichtiger als alles, was in den vergangenen 2000 Jahren passiert ist – im Kopf und in der Welt.

Ferien in Norwegen
    Der Gedanke der »Komplementarität« zeigte sich seinem Schöpfer in einem wissenschaftlichen Kontext und in vollem Bewusstsein zum ersten Mal im Skiurlaub, in den Bohr 1927 mehr oder weniger geflüchtet war, um allein nachdenken zu können und den erschöpfenden Diskussionen mit Heisenberg zu entkommen. Ihnen beiden war dabei klar geworden, »dass es, wenn man bis zu den Atomen hinabsteigt, eine [bislang als selbstverständlich vorausgesetzte] objektive Welt in Raum und Zeit gar nicht gibt und dass die mathematischen Symbole der theoretischen Physik nur das Mögliche, nicht
das Faktische abbilden«, wie Heisenberg die damalige erkenntnistheoretische Lage zusammenfasste. Man kann diese auch mit den Worten ausdrücken, dass es im Innersten der Welt keine Dinge, sondern nur Wahrscheinlichkeiten gibt. Bohr selbst hatte Mitte der 1920er Jahre betont, es sei nötig, »sich auf alle [philosophischen] Eventualitäten vorzubereiten«, auch wenn sich dabei Zusammenhänge zeigen, die »sich nicht in der gewöhnlichen raum-zeitlichen Beschreibung ermessen lassen«.
    Sein Begriff der Komplementarität, so teilte Bohr dem in Kopenhagen wartenden Heisenberg mit, soll die erkenntnistheoretische Situation beschreiben, in der sich die Physiker befinden, seit sie »ein und dasselbe Geschehen mit zwei verschiedenen Betrachtungsweisen erfassen können« oder sogar müssen. So ist es zuerst Einstein beim Licht und dann de Broglie bei den Elektronen widerfahren, als beide erkannt haben, dass sich die dazugehörigen Phänomene sowohl im Teilchen- als auch im Wellenbild erkunden und nur in dieser komplementären Dopplung verstehen lassen. Wesentlich und auffällig bei Bohrs Gedanken ist nun die Tatsache, dass dabei zwei Aspekte, Bilder oder Vorstellungen aufeinandertreffen, die sich auf der einen Seite widersprechen, die aber auf der anderen Seite zusammengehören. Komplementäres Denken meint nun die Überzeugung, dass nur beide sich zugleich ausschließenden und bedingenden Weisen der Betrachtung – Welle und Teilchen – gemeinsam das Phänomen – Licht – ausschöpfen und es verstehen lassen.

Der Begriff der Komplementarität
    Der Naturphilosoph und Physiker Klaus Michael Meyer-Abich (geb. 1936) schrieb 1964 in seiner Heimatstadt Hamburg bei Carl Friedrich von Weizsäcker eine Doktorarbeit über Bohrs Konzept der Komplementarität (1967 veröffentlicht). Hierin schlägt er die folgende präzise Fassung des zentralen Begriffs vor: »Komplementarität heißt die Zusammengehörigkeit verschiedener Möglichkeiten, dasselbe Objekt als Verschiedenes zu erfahren. Komplementäre Erkenntnisse gehören zusammen, insofern sie Erkenntnisse desselben Objekts sind; sie schließen einander jedoch insofern aus, als sie nicht zugleich und für denselben Zeitpunkt erfolgen können.«

    Der Schweizer Quantenchemiker Hans Primas (geb. 1928) bot in einem Aufsatz von 1992/3 folgende Formulierung an: »Wesentlich ist, dass wir in der Naturwissenschaft notwendigerweise komplementäre Beschreibungen brauchen, die prinzipiell vollkommen gleichberechtigt sind. Jede ist richtig, keine ist wahr. Keine genügt für sich allein, alle sind notwendig. Nur die Gesamtheit aller komplementären Beschreibungen kann die ungeteilte materielle Realität repräsentieren.«
    Vielfach wird darauf hingewiesen, dass der Gedanke des Komplementären einen wissenschaftlichen Ursprung in den Texten des amerikanischen Psychologen William James (1842–1910) erkennen lässt, und zwar in dessen zweibändigem Werk über die Prinzipien der Psychologie, die sich damals erst noch als eigenständige Disziplin der Forschung erweisen musste. Bei James geht es um verschiedene – komplementäre – Formen des Bewusstseins. Bei ihm heißt es: »Bei bestimmten Personen kann das gesamte mögliche Bewusstsein in mehrere Teile aufgespalten sein, die nebeneinander existieren, sich jedoch gegenseitig

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