Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
Atomphysik ausmacht. Die behauptete Unmöglichkeit einer physikalischen oder chemischen Erklärung eigentlicher Lebensfunktionen dürfte in diesem Sinne analog zu der Unzulänglichkeit der mechanischen Analyse für das Verständnis der Stabilität der Atome sein.
Bohr beschäftigte die Frage, ob es im und für das Leben eine »eindeutige Kausalbeziehung der Phänomene« gibt, ob also ein mechanisches Verständnis des Organischen möglich ist. In seinem Vortrag erinnert Bohr daran, dass in der Physik eine »Kausalbeschreibung im klassischen Sinne nur in solchen Fällen durchgeführt werden« kann, »wo die infrage kommende Wirkung groß ist im Verhältnis zum Wirkungsquantum [also der bei einem Eingriff unvermeidliche Einfluss auf das Leben unmerklich bleibt] und wo daher die
Phänomene unterteilt werden können, ohne wesentlich gestört zu werden«. In beiden Fällen passiert etwas, das der traditionellen Denkweise des naturwissenschaftlichen Vorgehens, die von Subjekten unter dem Stichwort der Objektivität gefeiert wird, entgegensteht. Unter dieser Objektivität hat man das Ziel der Wissenschaft verstanden, die Welt zu beschreiben, ohne dabei das verstehende Subjekt zu erwähnen. In der Quantenphysik war dieses Ideal verschwunden, da sich deren Objekte als unbestimmt erwiesen, bis eine Messung – eine Frage durch ein handelndes Subjekt – unternommen wurde. Die Bestimmung eines Elektrons oder eines Photons fällt also einem Subjekt zu, was in Bohrs Verständnis auch bedeutet, dass es keine »von den Beobachtungsmitteln unabhängige Existenz der Phänomene gibt«. Diese den Menschen zuerst in der Atomphysik begegnende »fundamentale Begrenzung unserer gewohnten Vorstellung« einer objektiven Wirklichkeit hat Bohr versucht, mit dem Wort Komplementarität in den Griff zu bekommen. Es stellt das dar, was er gern die Lektion der Atome nennt.
KAPITEL 6
Die Lektion der Atome
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden einige Leute auf der ganzen Welt gefragt, was sie zu den bedeutenden Entdeckungen oder Erfindungen der vergangenen zweitausend Jahre zählen würden. Zu den Befragten gehörte auch ich. Mir fielen zuerst technische Dinge wie der Buchdruck und der Transistor ein, dann wollte ich allgemein auf die Entwicklung der westlichen Wissenschaft in den vergangenen vierhundert Jahren eingehen, die Vorschläge zur chemischen Düngung oder das Aufkommen von Anästhetika im 19. Jahrhundert ins Feld führen. Der Initiator der Umfrage trat aber ausdrücklich mit der Bitte an mich heran, etwas zu finden, das anderen Befragten entgangen sein könnte und mehr oder weniger ungewöhnlich war. Nach einigem Abwägen entschied ich mich für Bohrs Konzept der Komplementarität – es schien mir ein guter Kandidat für die wichtigste Erfindung zu sein.
Bohr verstand unter dem Begriff der Komplementarität, dass man zu jeder Beschreibung der Natur eine komplementäre Form finden kann, die (in der Tiefe) gleichberechtigt ist, obwohl sie (an der Oberfläche) völlig anders erscheint. Eine Wahrheit erkennt man daran, so pflegte Bohr zu sagen, dass auch ihr Gegenteil eine Wahrheit ist. Als er diesen Gedanken zum ersten Mal öffentlich aussprach, ging es nur um Physik. Er musste sich dabei das Rampenlicht mit dem Gedanken der Unbestimmtheit teilen, den Werner Heisenberg mathematisch fassen konnte und als eine Relation abgeleitet hatte; viele Physiker lebten mit der Vorstellung, dass Bohrs Idee nur philosophisch verzieren würde, was sich wissenschaftlich eher als eine quantitative Qualität zu fassen gab. Doch diese Zeiten sind vorbei, und heute ist nachgewiesen und verstanden, dass die Komplementarität
die größere Entdeckung ist. An ihr kommt auch der nicht vorbei, der die Unbestimmtheit technisch zu hintergehen in der Lage ist.
Die Komplementarität scheint mir wichtiger als andere Denkformen, die wir kennen, auch wenn wir es in unserem Kulturkreis noch nicht wissen. Das westliche Denken laboriert immer noch an dem Schnitt herum, den René Descartes (1596–1650) ihm im frühen 17. Jahrhundert verpasst hat, als er die Seele aus dem Körper löste. Seitdem trennen wir uns als Subjekte von der Welt der Objekte, die wir der Wissenschaft überlassen – mit dem Ergebnis, dass wir als fühlende Menschen in ihr nicht mehr vorkommen und ausgeschlossen bleiben. Ich denke, die wichtigste Einsicht am Ende der beiden christlichen Jahrtausende besteht darin, dass wir die Aufgabe haben, der alten Idee der polaren Gegensätze eine neue Form zu
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