Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
neuartigen Rechenregeln gehorchen«.
Nachdem er gezeigt hatte, »dass die Undurchführbarkeit einer kausalen Darstellung der Quantenerscheinungen direkt mit den Voraussetzungen der Anwendung der für die Beschreibung von Erfahrungen in Betracht kommenden elementarsten Begriffe verknüpft ist«, fuhr Bohr nach einem kleinen Exkurs in die Relativitätstheorie Einsteins fort:
Es ist in diesem Zusammenhang von verschiedenen Seiten die Vermutung ausgesprochen worden, dass eine durchgreifende Umgestaltung der bisherigen, der alltäglichen Erfahrung angepassten Begriffsbildungen es ermöglichen würde, auch auf dem Gebiete der Atomphysik das Kausalitätsideal zu bewahren. Eine
solche Ansicht dürfte aber auf eine Verkennung der Sachlage beruhen. Schon die Forderung der Mitteilbarkeit der Versuchsumstände und der Messergebnisse bedeutet ja, dass wir nun im Rahmen der gewöhnlichen Begriffe von wohl definierten Erfahrungen sprechen können. Insbesondere dürfen wir nicht vergessen, dass der Kausalbegriff schon der Deutung jedes einzelnen Messergebnisses zugrunde liegt. Auch bei einer Zusammenfassung von Erfahrungen kann es sich der Natur der Sache nach niemals um wohldefinierte Brüche in einer Kausalkette handeln; der uns aufgezwungene Verzicht auf das Kausalitätsideal in der Atomphysik ist begrifflich ja auch allein darin begründet, dass wir infolge der unvermeidbaren Wechselwirkung zwischen den Versuchsobjekten und den Messinstrumenten – der prinzipiell nicht Rechnung getragen werden kann, wenn diese Instrumente zweckmäßig die eindeutige Anwendung der zur Beschreibung der Erfahrungen nötigen Begriffe erlauben sollen – nicht länger imstande sind, von einem selbständigen Verhalten der physikalischen Objekte zu reden. Letzten Endes dient ja ein künstliches Wort wie »Komplementarität«, das nicht zu den alltäglichen Begriffen gehört und dem daher kein anschaulicher Inhalt mithilfe der gewöhnlichen Vorstellungen gegeben werden kann, nur dazu, an die vorliegende jedenfalls in der Physik gänzlich neue erkenntnistheoretische Situation zu erinnern.
Im Verlauf des Vortrags betonte Bohr zum einen, dass er mit der Komplementarität und dem dazugehörigen Aufgeben einer Kausalbeschreibung keinesfalls leichtfertig behaupte, es sei unmöglich, »die Fülle der Erscheinungen« zu erfassen. Vielmehr würden seine Überlegungen das »ernsthafte Bemühen« darstellen, den uns in der Physik entgegentretenden neuartigen Gesetzen »im Sinne der allgemeinen Belehrung der Philosophie« gerecht zu werden. Deshalb scheine es ihm selbstverständlich, »dass wir auch auf anderen Gebieten der menschlichen Erkenntnis scheinbaren Widersprüchen begegnen, die nur unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität vermeidbar sein dürften«.
Bohr dachte vor allem, dass sich seine Position und sein Vorschlag »auch bei der Diskussion von psychologischen Fragen behilflich erweisen« könnten:
In der Tat weist ja schon der Gebrauch von Wörtern wie »Gedanke« und »Gefühl« oder »Instinkt« und »Vernunft« zur Beschreibung verschiedenartiger psychischer Erlebnisse auf das Vorhandensein von charakteristischen, durch die Besonderheit der Selbstbeobachtung bedingten Komplementaritätsverhältnissen hin. Vor allem dürfte eben in der prinzipiellen Unmöglichkeit, bei der Selbstbeobachtung zwischen Subjekt und Objekt im Sinne des Kausalitätsideals scharf zu unterscheiden, das Willensgefühl seinen natürlichen Spielraum finden.
Der Pauli-Bohr-Dialog
Die Idee der Komplementarität stieß auf größte Sympathie bei dem sonst so kritischen Wolfgang Pauli, der bereitwillig den Gedanken akzeptierte, dass die ungeteilte Wirklichkeit nicht mit einem Blick, sondern nur komplementär zu erfassen ist. Für Pauli war nach den Erfahrungen der Physiker offenkundig, dass es Naturbeschreibungen gibt, die sich zwar gegenseitig ausschließen, die aber gleichberechtigt sind, was auch bedeutet, dass das Ganze wirklich mehr ist als die Summe seiner Teile. Das Ganze ist so der Aspekt, der dem zerlegenden Zugriff als gleichberechtigte Ergänzung an die Seite treten muss, damit vom Verstehen einer Sache gesprochen werden kann. Das Ganze ist nie nur das Ganze, sondern immer auch der komplementäre Aspekt zu den Teilen.
Der Gedanke der Komplementarität ist im Grunde einleuchtend: Da gibt es die Lichtseite, zu der eine Nachtseite gehört; da agiert der Einzelne, der den Anderen erwartet; da zeigt sich das Eigene, das sich im Fremden sieht, und vieles mehr. Der
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