Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil
keine Kobolde oder anderer Teufelskram von der
Art, dem in der Nacht zu begegnen er sich immer scheute. Die Mauern wie auch der Torweg waren so prächtig, daß er große Lust
empfand, zu sehen, was dahinter sein könne. »Ich muß wirklich untersuchen, wie dies hier zusammenhängt,« dachte er und begab
sich in das Tor hinein.
In der tiefen Torwölbung saß die Wachtmannschaft in bunten Gewändern mit großen Puffärmeln und mit langschaftigen Hellebarden
an der Seite; sie spielten Würfel und dachten nur an das Spiel und beachteten den Jungen nicht, der an ihnen vorübereilte.
Jenseits des Tors kam er auf einen freien, mit großen, glatten steinernen Fliesen belegten Platz. Ringsum standen hohe, prächtige
Häuser, und lange, schmale Straßen gingen von dort aus.
Auf diesem Platz wimmelte es von Menschen. Die Männer trugen lange, pelzgefütterte Mäntel über kostbaren Unterkleidern aus
Seide, Baretts mit Straußenfedern saßen ihnen schief auf dem Kopf und über der Brust hingen breite goldene Ketten. Sie waren
alle so prachtvoll gekleidet, als könnten sie Könige sein.
Die Frauen hatten hohe, spitze Hauben auf dem Kopfe und lange Kleider mit engen Ärmeln. Auch sie waren prächtig gekleidet,
jedoch längst nicht so kostbar wie die Männer.
Es war ja ganz so wie in dem alten Märchenbuch, das seine Mutter zuweilen aus der Truhe nahm undihm zeigte. Der Junge wollte seinen Augen nicht trauen.
Aber noch merkwürdiger als die Männer und die Frauen, war die Stadt selber. Jedes einzelne Haus war so gebaut, daß es den
Giebel nach der Straße kehrte, und diese Giebel waren so verziert, daß man glauben sollte, sie wollten miteinander wetteifern,
welcher von ihnen der feinste sei.
Wer auf einmal so viel Neues zu sehen hat, kann es nicht alles in seinem Gedächtnis bewahren. Aber der Junge konnte sich trotzdem
später erinnern, daß er zackige Giebel gesehen hatte, wo auf jedem Absatz Bilder von Christus und seinen Aposteln standen,
Giebel, wo eine Nische neben der andern lag, bis zur Spitze hinauf, alle mit geschnitzten Figuren darin, Giebel, die mit bunten
Glasstücken eingelegt waren, und Giebel aus weißem und schwarzem Marmor, gestreift und gewürfelt.
Während der Junge umherging und dies alles bewunderte, befiel ihn auf einmal eine fürchterliche Eile. »So was hab' ich mein
Lebtag nicht gesehen, und so was bekomme ich auch nie wieder zu sehen,« sagte er zu sich selber. Und dann begann er, die ganze
Stadt zu durchlaufen, Straße auf und Straße ab.
Die Straßen waren eng, aber nicht dunkel und leer wie in den Städten, durch die er auf seiner Reise gekommen war. Überall
wimmelte es von Menschen. Alte Frauen saßen vor ihren Türen und spannen, ohne Spinnrocken, nur mit einer Spindel. Die Läden
der Kaufleute waren wie Marktbuden nach der Straße zuoffen. Alle Handwerker standen mit ihrer Arbeit unter offenem Himmel. An einer Stelle wurde Tran gekocht, an einer andern
Stelle wurden Häute gegerbt, an einer dritten Stelle befand sich eine lange Reiserbahn.
Hätte der Junge nur Zeit gehabt, so hätte er alle möglichen Handwerke erlernen können. Hier sah er, wie der Maschinenschmied
es machte, wenn er einen Brustharnisch aushämmerte, wie der Goldschmied edle Steine in Ringe und Armbänder faßte, wie der
Drechsler seine Eisen führte, wie der Schuhmacher seine feinen, roten Schuhe versohlte, wie der Goldzieher güldene Fäden zwirnte,
wie die Weber Einschläge von Gold und Silber in ihr Gewebe webten.
Aber der Junge hatte keine Zeit, stillzustehen. Er stürzte dahin, um soviel wie möglich zu sehen, ehe es alles wieder verschwand.
Die hohe Mauer lief rings um die ganze Stadt und schloß sie ab, wie ein Zaun ein Feld abschließt. Am Ende jeder Straße sah
er sie mit ihren Türmen und Zinnen. Oben auf der Mauer gingen Kriegsknechte mit blitzenden Helmen und Harnischen.
Als er quer durch die ganze Stadt gelaufen war, kam er an ein anderes Tor in der Mauer. Davor lagen das Meer und der Hafen.
Der Junge sah altmodische Schiffe mit Ruderbänken quer darüber und mit hohen Überbauten vorne und achtern. Einige lagen da
und nahmen Lasten ein, andere warfen gerade die Anker aus. Lastträger und Kaufleute bewegtensich durcheinander. Überall herrschte Leben und Geschäftigkeit.
Aber auch hier, fand er, habe er keine Zeit zum Verweilen. Er eilte wieder in die Stadt zurück und kam nun zu dem großen Marktplatz.
Da lag der Dom mit drei hohen Türmen und einem
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