Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil
sie von einigen Krähen gehört hatte, daß sich
ihre Reisegefährten auf der kleinen Karlsinsel befanden. Als Kaksi hörte, was sich mit Däumling zugetragen hatte, sagte sie
plötzlich:
»Wenn es eine alte Stadt ist, über die Däumling trauert, so wollen wir ihn gar bald trösten. Kommt nur mit, dann will ich
euch an einen Ort führen, den ich gestern gesehen habe! Er soll bald wieder ganz fröhlich werden!«
Dann nahmen die Gänse Abschied von den Schafen, und nun befanden sie sich auf dem Wege nach dem Ort, den Kaksi Däumling zeigen
wollte. So betrübt er auch war, konnte er es doch nicht lassen, wie gewöhnlich auf das Land hinabzusehen, über das er dahinflog.
Vor seinen Augen sah es so aus, als wenn die ganze Insel von Anfang an eine hohe, steile Klippe gewesen war, so wie die Karlsinsel,
nur natürlich viel größer. Aber dann war sie auf irgendeine Weise flach gemacht. Jemand hatte eine große Kuchenrolle genommen
und damit darüber hingerollt, als sei sie ein Stück Teig.Nicht so zu verstehen, daß sie eben geworden wäre wie ein Stück Flachbrot, das war sie nicht. Als sie an der Küste entlang
flogen, hatte er an mehreren Stellen hohe, weiße Kalkwände mit Grotten und Felssäulen gesehen, aber an den meisten Stellen
waren sie mit der Erde gleich gemacht; und die Küste fiel leise abschrägend nach dem Meere zu ab.
Auf Gulland hatten sie einen schönen und friedlichen Sonntagnachmittag. Es war mildes Frühlingswetter, die Bäume hatten große
Knospen, Frühlingsblumen bedeckten die Wiesen, die langen, dünnen, herabhängenden Zweige der Pappeln wehten, und in den kleinen
Gärten, die vor jedem einzelnen Hause lagen, standen die Stachelbeerbüsche ganz grün.
Die Wärme und das fruchtbare Wetter hatten die Leute auf die Wege und die Hofplätze hinausgelockt, und wo mehrere versammelt
waren, wurde gespielt. Und nicht nur die Kinder spielten, sondern auch die Erwachsenen. Sie warfen mit Steinen nach einem
Ziel und schickten ihre Bälle mit einem gewaltigen Schwung in die Luft hinauf, daß sie nahe daran waren, die wilden Gänse
zu treffen. Es sah lustig und munter aus, daß die Erwachsenen also spielten, und der Junge würde sich auch darüber gefreut
haben, wenn er seinen Kummer darüber, daß er die Stadt nicht hatte erretten können, hätte vergessen können.
Aber er mußte ja zugeben, daß es eine schöne Fahrt war. Es lag so ein Sang und Klang in der Luft. Die kleinen Kinder spielten
Ringelreihen und sangen dazu. Und die Heilsarmee war auch unterwegs. Ersah eine Menge Menschen in schwarzen und roten Anzügen auf einem Waldhügel sitzen und Gitarre und Messinginstrumente spielen.
Auf einem der Wege kam eine große Schar Menschen daher. Es waren Good-Templer, die einen Ausflug gemacht hatten. Er konnte
sie an den großen Fahnen mit den goldenen Inschriften erkennen, die über ihnen wehten. Und sie sangen ein Lied nach dem andern,
so lange er sie hören konnte.
Der Junge konnte später niemals den Namen Gulland hören, ohne sofort an Spiel und Gesang zu denken.
Lange hatte er so gesessen und hinabgesehen, aber nun erhob er zufällig die Augen. Es ist nicht zu sagen, wie sehr er staunte.
Ohne daß er es bemerkt, hatten die Gänse das Innere der Insel verlassen und waren westwärts nach der Küste zugeflogen. Jetzt
lag das offene, blaue Meer vor ihm. Doch nicht das Meer war so merkwürdig, sondern eine Stadt, die an der Küste aufragte.
Der Junge kam von Osten, und die Sonne stand schon niedrig im Westen. Als er sich der Stadt näherte, hoben sich ihre Mauern
und Türme und die hohen Giebelhäuser und Kirchen ganz schwarz von dem hellen Abendhimmel ab. Daher konnte er nicht sehen,
wie es eigentlich mit ihnen zusammenhing, und einige Augenblicke glaubte er, daß die Stadt ebenso prächtig sei wie die, die
er in der Osternacht gesehen hatte.
Als er ganz nahe herankam, sah er, daß sie der Stadt auf dem Grunde des Meeres glich und doch wieder nicht glich. Es war derselbe
Unterschied, als wenn man deneinen Tag einen Mann in Purpur und köstlichem Leinen gekleidet sieht, und den andern Tag in Lumpen.
Aber die Stadt hatte wohl einmal so ausgesehen wie die, an die er denken mußte. Sie war ebenfalls von einer Mauer mit Türmen
und Toren umgeben. Aber die Türme in dieser Stadt, die über der Erde stehen geblieben war, standen ohne Dach, hohl und leer
da. Die Tore waren ohne Türflügel, Wächter und Kriegsknechte waren verschwunden. All die strahlende
Weitere Kostenlose Bücher