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Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Titel: Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selma Lagerloef
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wirklich, aber als er sie aufgenommen hatte und nach der Stadt zurücklaufen wollte, sah er nichts als das
     Meer vor sich. Keine Mauer, keinen Torweg, keine Wächter, keine Straßen, keine Häuser, nichts weiter als das bloße Meer.
    Die Augen des Jungen füllten sich mit Tränen. Zuerst hatte er geglaubt, daß das, was er sah, nichts als Augenverblendung sei,
     aber das hatte er wieder vergessen. Er hatte nur daran gedacht, wie schön das alles war. Er trauerte förmlich darüber, daß
     die Stadt verschwunden war.
    Im selben Augenblick erwachte Herr Langbein und kam zu ihm hin. Aber er hörte ihn nicht. Der Storch mußte ihn mit dem Schnabel
     puffen, um sich bemerkbar zu machen. »Du stehst hier auch wohl und schläfst,« sagte Herr Langbein.
    »Lieber Herr Langbein!« sagte der Junge. »Was für eine Stadt war denn das, die eben noch hier lag?«
    »Hast du eine Stadt gesehen?« sagte der Storch. »Du hast geschlafen und geträumt, glaub' mir nur!«
    »Nein, ich habe nicht geträumt,« sagte Däumling, und er erzählte dem Storch alles, was er erlebt hatte.
    Da sagte Herr Langbein: »Ich glaube nun doch, daß du hier am Strande eingeschlafen bist, Däumling.und das alles geträumt hast. Aber ich will dir doch nicht verhehlen, daß Bataki, der Rabe, der der gelehrteste Vogel der
     Welt ist, mir einmal erzählt hat, daß hier an der Küste in alten Zeiten eine Stadt gelegen hat, die Vineta hieß. Sie war so
     reich und glücklich, daß es niemals eine prächtigere Stadt gegeben hat, aber ihre Einwohner frönten leider dem Stolz und der
     Prunksucht. Zur Strafe dafür, sagt Bataki, wurde die Stadt Vineta von einer Sturmflut überschwemmt und versank ins Meer. Aber
     die Einwohner können nicht sterben, und ihre Stadt geht auch nicht zugrunde. Und in einer Nacht alle hundert Jahre steigt
     sie in aller ihrer Herrlichkeit aus dem Meere auf und liegt genau eine Stunde auf der Oberfläche der Erde.«
    »Ja, das muß richtig sein,« sagte Däumling, »denn das hab' ich gesehen.«
    »Ist aber die Stunde vergangen, so versinkt sie wieder ins Meer, wenn nicht ein Kaufmann in Vineta während dieser Zeit etwas
     an ein lebendes Wesen verkauft hat. Hättest du, Däumling, nur die allergeringste Kupfermünze gehabt, um sie dem Kaufmann zu
     geben, so läge Vineta noch hier an der Küste, und die Menschen könnten dort leben und sterben wie andere Menschen.«
    »Herr Langbein,« sagte der Junge, »jetzt kann ich verstehen, warum Sie in der Nacht kamen und mich holten. Das taten Sie,
     weil Sie glaubten, daß ich die alte Stadt erlösen könnte. Ich bin so betrübt, daß es nicht so ging, wie Sie wollten, Herr
     Langbein!«
    Er hielt sich die Hände vor die Augen und weinte.
    Es war nicht leicht zu entscheiden, wer trauriger aussah, der Junge oder Herr Langbein.
Die lebende Stadt.
    Montag, den 11. April.
    Den zweiten Ostertag am Nachmittag waren die wilden Gänse und Däumling wieder auf der Reise. Sie flogen über Gulland hin.
    Die große Insel lag eben und flach unter ihnen. Die Erde war gewürfelt, genau so wie in Schonen, überall lagen Kirchen und
     Gehöfte. Der Unterschied aber war, daß zwischen den Feldern hier mehrere Haine standen, und dann waren die Gehöfte nicht zusammengebaut.
     Und da waren keine großen Schlösser mit Türmen und mit weitgedehnten Parks.
    Die wilden Gänse hatten Däumlings wegen den Weg über Gulland eingeschlagen. Zwei Tage war er jetzt ganz wie verwandelt gewesen
     und hatte kaum den Mund aufgetan. Das kam daher, weil er an nichts weiter denken konnte als an die Stadt, die sich ihm auf
     eine so wunderbare Weise gezeigt hatte. Er hatte nie etwas so Schönes und Prächtiges gesehen, und er konnte sich nicht darüber
     beruhigen, daß es ihm nicht vergönnt gewesen war, sie zu erretten. Er war sonst gar nicht sentimental veranlagt, aber er trauerte
     geradezu über die schönen Gebäude und die großen, stolzen Menschen.
    Sowohl Akka wie auch der Gänserich hatten Däumling zu überzeugen gesucht, daß es ein Traum oderAugenverblendung gewesen war, der Junge wollte aber nicht mit sich reden lassen. Er war überzeugt, was er gesehen hatte,
     das hatte er gesehen, und diese Überzeugung konnte niemand erschüttern. Er ging so betrübt umher, daß seine Reisekameraden
     seinetwegen besorgt wurden.
    Gerade als der Junge am allerniedergeschlagensten war, kehrte die alte Kaksi zu der Schar zurück. Der Sturm hatte sie nach
     Gulland verschlagen, und sie war um die ganze Insel rund herum gewesen, ehe

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