Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil
Pracht war dahin. Nur
das nackte, graue Steinskelett war übrig geblieben.
Als der Junge weiter über die Stadt hinflog, sah er, daß sie zum größten Teil aus kleinen, niedrigen Häusern bestand, aber
hier und da waren einige hohe Giebelhäuser und einige Kirchen aus der alten Zeit erhalten. Die Mauern der Giebelhäuser waren
weiß getüncht und ohne den geringsten Schmuck, da aber der Junge erst so kürzlich die versunkene Stadt gesehen hatte, konnte
er sich denken, wie sie ausgeschmückt gewesen waren: einige mit Bildsäulen und andere mit schwarzem und weißem Marmor. Und
ebenso war es mit den alten Kirchen. Die meisten von ihnen waren ohne Dach, und ihr Inneres war kahl und leer. Die Fensteröffnungen
waren ohne Scheiben, die Fußböden waren mit Gras bewachsen, und an den Wänden kletterte der Efeu hinauf. Aber nun wußte er,
wie sie einstmals ausgesehen hatten, daß sie mit Bildsäulen und Gemälden bedeckt gewesen waren, daß sich im Chor ein reichgeschmückter
Altar und goldene Kreuze erhobenhatten, und daß Priester in goldenem Ornat darin umhergewandelt waren.
Der Junge sah auch die schmalen Gassen, die an so einem Sonntagnachmittag fast leer waren. Aber er wußte, was für ein Strom
von schönen, stolzen Menschen dort einstmals hin und her gewogt war. Er wußte, daß die Straßen wie große Werkstätten mit allerhand
Arbeitern ganz angefüllt gewesen waren.
Niels Holgersen sah aber nicht, daß die Stadt noch heutigen Tages sowohl merkwürdig als auch schön war. Er sah weder die traulichen
Häuschen in den Hinterstraßen mit den schwarzen Mauern, weißgemalten Balkenenden und roten Pelargonien hinter den blanken
Fensterscheiben, noch die vielen schönen Gärten und Alleen oder die Schönheit der efeubekleideten Ruinen. Seine Augen waren
so voll von der Herrlichkeit des Entschwundenen, daß er nichts Gutes in dem erblicken konnte, was war.
Die wilden Gänse flogen ein paarmal über der Stadt hin und her, damit Däumling alles richtig sehen sollte. Schließlich ließen
sie sich auf dem grasüberwucherten Boden einer Ruinenkirche nieder, um dort die Nacht zu bleiben.
Sie hatten sich schon zum Schlafen gesetzt, aber Däumling war noch wach und sah durch die zertrümmerten Gewölbe zu dem blaßroten
Abendhimmel empor. Als er eine Weile so gesessen hatte, dachte er, nun wollte er ein Ende machen mit seiner Trauer darüber,
daß er die versunkene Stadt nicht hatte erretten können.
Ja, das wollte er tun, seit er nun diese Stadt gesehen hatte. Wäre die Stadt, die er gesehen hatte, nicht auf den Grund des
Meeres gesunken, so wäre sie vielleicht binnen kurzem ebenso verfallen wie diese. Sie hätte am Ende der Zeit und der Vergänglichkeit
nicht widerstehen können, sondern hätte bald mit Kirchen ohne Dach und Häusern ohne Schmuck und öden, leeren Straßen dagestanden,
so wie diese. Dann war es doch besser, daß sie in all ihrer Herrlichkeit unten im Verborgenen bewahrt worden war.
»Es ist gut, daß es kam, wie es kam,« dachte er. »Hätte ich die Macht, die Stadt zu erlösen, ich glaube, ich würde es nicht
tun.« Und dann trauerte er nicht mehr darüber.
Und da sind gewiß viele unter den jungen Leuten, die so denken. Aber wenn man alt wird und sich hat gewöhnen müssen, mit wenigem
zufrieden zu sein, da freut man sich mehr über das Visby, das da ist, als über ein schönes Vineta auf dem Grunde des Meeres.
XIV. Die Sage von Samlaand
Dienstag, den 12. April.
Die wilden Gänse hatten eine gute Reise übers Meer gehabt und sich in der Tjuster Harde im nördlichen Smaaland niedergelassen.
Diese Harde sah so aus, als könne sie sich nicht entschließen, ob sie Land sein wolle oder Meer. Überall drangen die Meerbusenein und zerschnitten das Land in Inseln und Halbinseln, in Landzungen und Vorgebirge. Das Meer war so aufdringlich, daß das
einzige, was sich aufrecht halten konnte, Hügel und Felsklippen waren. Alles niedrige Land war unter der Meeresfläche verborgen.
Es war Abend, als die wilden Gänse von dem Meer hereinkamen, und das hügelige Land lag hübsch zwischen den blinkenden Fjorden.
Hier und da auf den Inseln sah der Junge Häuser und Hütten, und je weiter er auf das Land zu kam, um so größer und besser
wurden die Häuser. Schließlich wuchsen sie zu großen, weißen Schlössern heran. An der Küste entlang stand in der Regel ein
Kranz von Bäumen, dahinter lagen Felder und oben auf dem Gipfel der kleinen Hügel begannen die
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