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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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ob er einen Witz gemacht hat oder nicht, sieh mich an. Ich … hmm, klopfe dann mit dem Zeigefinger auf den Tisch.«
    Sie hatten die Person auf dem Gehweg erreicht. Jessica stieg darüber hinweg. Richard zögerte. »Jessica?«
    »Du hast recht. Dann denkt er vielleicht, ich würde mich langweilen. Wenn er einen Witz macht, reibe ich mir das Ohrläppchen.«
    »Jessica?«
    »Was?«
    »Schau mal.« Er zeigte auf den Gehsteig. Die Person lag mit dem Gesicht nach unten. Sie war in weite Sachen gehüllt. Jessica nahm seinen Arm und zog ihn zu sich.
    »Wenn du denen auch nur die geringste Beachtung schenkst, Richard, kannst du dich vor ihnen nicht mehr retten. In Wirklichkeit haben die doch alle ein Zuhause. Wenn sie erst mal ihren Rausch ausgeschlafen hat, geht es ihr bestimmt wieder gut.«
    Sie? Richard blickte nach unten. Es war tatsächlich ein Mädchen.
    Jessica fuhr fort: »Also, ich habe Mister Stockton gesagt, daß wir …« Richard kniete am Boden. »Richard? Was tust du da?«
    »Sie ist nicht betrunken«, sagte Richard. »Sie ist verletzt. « Er musterte seine Fingerspitzen. »Sie blutet.«
    Jessica schaute nervös und verunsichert zu ihm herab. »Wir kommen zu spät«, stellte sie fest.
    »Sie ist verletzt.«
    Jessica sah noch einmal das Mädchen auf dem Gehsteig an. Prioritäten: Richard hatte keine Prioritäten.
    Das Gesicht des Mädchens war schmutzverkrustet, und ihre Kleidung war blutdurchtränkt.
    »Richard. Wir kommen zu spät.«
    »Sie ist verletzt«, sagte er einfach. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck, den Jessica noch nie gesehen hatte.
    »Richard«, warnte sie, und dann wurde sie ein bißchen weich und bot einen Kompromiß an. »Dann ruf einen Krankenwagen. Aber schnell.«
    Die Augen des Mädchens öffneten sich, weiß und weit aufgerissen in einem Gesicht, das kaum mehr als ein einziger Schmutz- und Blutfleck war. »Nicht ins Krankenhaus, bitte. Dort finden sie mich. Bring mich irgendwo in Sicherheit. Bitte.« Ihre Stimme war schwach.
    »Du blutest«, sagte Richard. Er sah nach, wo sie hergekommen war; doch die Mauer war glatt und steinern und unbeschädigt.
    »Hilfst du mir?« flüsterte sie, und ihre Augen schlossen sich.
    »Wenn du den Notarzt anrufst«, sagte Jessica, »sag nicht deinen Namen. Nachher mußt du noch eine Aussage machen oder so, und ich lasse mir diesen Abend nicht verderben … Richard? Was tust du da?«
    Richard hatte das Mädchen aufgehoben und hielt es in seinen Armen. Es war überraschend leicht. »Ich bringe sie in meine Wohnung, Jess. Ich kann sie nicht einfach hierlassen. Sag Mister Stockton, es täte mir wirklich leid, aber es sei ein Notfall gewesen. Das versteht er bestimmt.«
    »Richard Oliver Mayhew«, sagte Jessica kalt. »Du legst dieses junge Ding hin und kommst sofort wieder her. Oder unsere Verlobung ist ab sofort gelöst. Ich warne dich.«
    Richard spürte die klebrige Wärme des Blutes, das sein Hemd durchnäßte. Manchmal kann man einfach nichts machen.
    Er ging davon.
    Jessica stand da auf dem Gehweg, sah zu, wie er ihr ihren großen Abend verdarb, und Tränen brannten in ihren Augen. Nach einer Weile war er außer Sichtweite, und da, erst da, sagte sie laut und deutlich: »Scheiße!« und schleuderte ihre Handtasche mit aller Kraft auf den Boden, mit soviel Kraft, daß ihr Handy und ihr Lippenstift und ihr Terminkalender und eine Handvoll Tampons auf das Pflaster flogen. Und dann hob sie, da es sonst nichts zu tun gab, alles wieder auf, steckte es in ihre Handtasche und ging zum Restaurant, um auf Mr. Stockton zu warten.
    Während sie an ihrem Weißwein nippte, versuchte sie sich plausible Gründe dafür einfallen zu lassen, warum ihr Verlobter nicht bei ihr war, und stellte fest, daß sie verzweifelt überlegte, ob sie nicht einfach behaupten könnte, Richard sei tot.
    »Es geschah ganz plötzlich«, raunte Jessica versonnen.
    Während des gesamten Weges faßte Richard keinen einzigen klaren Gedanken. Seine Willenskraft hatte keinen Einfluß auf das, was er tat. Irgendwo im logisch denkenden Teil seines Kopfes sagte ihm jemand – ein normaler, vernünftiger Richard Mayhew –, wie absurd er sich verhielt, daß er einfach die Polizei hätte rufen sollen, oder einen Krankenwagen; daß es gefährlich ist, eine verletzte Person hochzuheben; daß er Jessica wirklich ernsthaft verärgert hatte; daß er heute auf dem Sofa würde schlafen müssen; daß er seinen einzigen guten Anzug verdarb; daß das Mädchen fürchterlich roch … doch ohne es zu wollen, setzte

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