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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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weder wie ein Stier noch wie ein Keiler. Es klang wie ein Löwe. Es klang wie ein gewaltiger Drache.
    »Das Labyrinth ist eine der ältesten Stätten Unter-Londons«, erklärte der Marquis. »Noch bevor König Lud auf den Themse-Sümpfen ein Dorf gründete, gab es hier ein Labyrinth.«
    »Allerdings kein Ungeheuer«, sagte Richard.
    »Damals noch nicht.«
    Richard zögerte. Das entfernte Brüllen setzte wieder ein. »Ich … ich glaube, ich habe von dem Ungeheuer geträumt«, sagte er.
    Der Marquis zog eine Augenbraue hoch. »Was für Träume?«
    »Alpträume«, sagte Richard.
    Der Marquis dachte darüber nach, und seine Augen flackerten. Und dann sagte er. »Hören Sie zu, Richard. Hunter nehme ich mit. Wenn Sie allerdings lieber hier warten wollen, nun ja, dann würde Sie trotzdem niemand als feig bezeichnen können.«
    Richard schüttelte den Kopf. Manchmal kann man einfach nichts tun. »Ich kehre nicht um. Nicht jetzt. Sie haben Door.«
    »Gut«, sagte der Marquis. »Nun denn. Wollen wir gehen? « Hunters perfekte Karamellippen verzogen sich zu einem Hohnlächeln. »Sie müssen verrückt sein, wenn Sie da hineingehen«, sagte sie. »Ohne den Talisman des Engels würden Sie niemals den Weg finden. Niemals an dem Keiler vorbeikommen.«
    Der Marquis steckte seine Hand unter seine Poncho-Decke und holte die kleine Obsidian-Statue hervor, die er aus dem Arbeitszimmer von Doors Vater mitgenommen hatte. »Meinen Sie so einen?« fragte er.
    Und dann stellte der Marquis fest, daß vieles, was er in den vergangenen Wochen durchgemacht hatte, durch Hunters Gesichtsausdruck wieder wettgemacht wurde. Sie gingen durch das Tor und hinein ins Labyrinth.
    Doors Arme waren hinter ihrem Rücken gefesselt, und Mr. Vandemar ging hinter ihr, eine riesige Hand auf ihrer Schulter, und schob sie voran. Mr. Croup huschte voraus, den Obsidian-Talisman in der Hand, den er ihr oben in der Luft weggenommen hatte, und er blickte nervös von einer Seite zur anderen, wie ein Wiesel auf dem Weg zu einem Hühnerstallüberfall.
    Das Labyrinth selbst war der reinste Irrsinn. Es war aus verlorengegangenen Fragmenten Ober-Londons gebaut: Gassen und Straßen und Korridore und Siele, die im Laufe der Jahrtausende durchs Netz gerutscht und in die Welt der Verlorenheit und des Vergessenseins übergegangen waren.
    Sie stapften über Kopfsteinpflaster und durch Schlamm und Mist (Pferdemist und anderen) und über verfaulende Holzbretter. Der Ort veränderte sich beständig: Und jeder Weg teilte sich, führte im Kreise herum oder wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück.
    Mr. Croup ließ sich von dem Talisman, dessen Zug er spürte, führen.
    Sie gingen eine winzige Gasse entlang, die einst zu einem viktorianischem ›Krähenhorst‹ gehörte hatte (einem Elendsquartier, in dem zu gleichen Teilen Diebstahl und Gin, totale Verwahrlosung und billiger Sex herrschten), und sie hörten es irgendwo in der Nähe schnaufen und schnauben. Und dann brüllte es.
    Mr. Croup zögerte. Am Ende der Gasse blieb er stehen und schaute sich mit zusammengekniffenen Augen um, bevor er sie ein paar Stufen in einen langen steinernen Tunnel hinunterführte, der zur Zeit der Tempelritter über die Sümpfe hinweggeführt hatte.
    Door sagte: »Sie haben Angst, nicht wahr?«
    Er warf ihr einen wütenden Blick zu. »Hüten Sie Ihre Zunge.«
    Sie lächelte, obwohl ihr gar nicht nach Lächeln zumute war. »Sie haben Angst, daß Ihr Talisman Sie nicht sicher an dem Ungeheuer vorbeibringt. Was haben Sie jetzt vor? Islington entführen? Und uns beide an denjenigen verkaufen, der am meisten bietet?«
    »Ruhe«, sagte Mr. Vandemar.
    Doch Mr. Croup lachte nur leise; und da wußte Door, daß der Engel Islington nicht ihr Freund war.
    Sie begann zu schreien. »Hey! Ungeheuer! Hier sind wir! Hu-hu! Mister Ungeheuer!«
    Mr. Vandemar versetzte ihr einen leichten Schlag an den Kopf und stieß sie gegen die Wand.
    »Ruhe, hab’ ich gesagt«, erklärte er milde.
    Sie schmeckte Blut und spuckte scharlachrot in den Schlamm. Dann öffnete sie den Mund und fing wieder an zu schreien. Mr. Vandemar, der das vorausgesehen hatte, hatte bereits ein Taschentuch aus seiner Tasche gezogen und stopfte es ihr in den Mund. Sie versuchte ihm dabei auf den Daumen zu beißen, doch das machte keinen nennenswerten Eindruck auf ihn.
    »Jetzt sind Sie aber ruhig«, sagte er.
    Mr. Vandemar war sehr stolz auf sein Taschentuch, das grün und braun und schwarz gesprenkelt war und ursprünglich einem ziemlich übergewichtigen

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