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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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ein.
    Es war alles so schnell gegangen. Das Ungeheuer war aus der Dunkelheit aufgetaucht, Hunter hatte sich den Speer geschnappt, es hatte sie angegriffen und war wieder in der Finsternis verschwunden.
    Richard lauschte angestrengt. Er hörte nichts als das langsame tropf, tropf von Wasser, irgendwo, und das hohe Sirren von Mücken.
    Hunter lag auf dem Rücken. Ein Arm war in einem eigenartigen Winkel abgeknickt. Er kroch durch den Schlamm zu ihr. »Hunter?« flüsterte er. »Hören Sie mich?«
    Stille. Und dann, in einem derart schwachen Flüstern, daß er einen Moment lang glaubte, er habe es sich eingebildet. »Ja.«
    Der Marquis stand immer noch ein paar Meter entfernt neben einer Wand. Jetzt rief er: »Richard – bleiben Sie, wo Sie sind. Die Kreatur wartet nur ab. Sie kommt zurück.«
    Richard beachtete ihn nicht. Er sprach mit Hunter.
    »Werden Sie …«, er hielt inne. Es kam ihm sehr dumm vor. Trotzdem sagte er es: »Werden Sie wieder gesund?«
    Da lachte sie mit blutbefleckten Lippen und schüttelte den Kopf.
    »Gibt es hier unten eigentlich irgendwelche Ärzte?« fragte er den Marquis.
    »Hm. Nicht in dem Sinne, wie Sie meinen. Wir haben ein paar Heiler, eine Handvoll Quacksalber und Wundärzte …«
    Hunter hustete und zuckte dann zusammen. Hellrotes Blut tropfte ihr aus dem Mundwinkel.
    Der Marquis schob sich näher heran. »Haben Sie Ihr Leben irgendwo versteckt, Hunter?« fragte er.
    »Ich bin Jägerin«, flüsterte sie verächtlich. »Von so etwas halten wir nichts …« Sie sog mühsam Luft in ihre Lungen und atmete dann aus, als strengte sie das Atmen bereits zu sehr an. »Richard, haben Sie je einen Speer benutzt?«
    »Nein.«
    »Nehmen Sie ihn«, flüsterte sie.
    »Aber …«
    »Tun Sie’s!« Ihre Stimme war leise und eindringlich. »Heben Sie ihn auf. Halten Sie ihn am stumpfen Ende fest.«
    Richard hob den heruntergefallenen Speer auf. Er hielt ihn am stumpfen Ende fest. »Den Teil kannte ich schon«, erklärte er.
    Der Schimmer eines Lächelns flog über ihr Gesicht. »Ich weiß.«
    »Hören Sie«, sagte Richard und fühlte sich dabei nicht zum ersten Mal wie der einzig vernünftige Mensch in einem Irrenhaus. »Lassen Sie uns ganz leise sein. Vielleicht geht es wieder weg. Wir versuchen, Hilfe zu holen.«
    Und nicht zum ersten Mal hörte ihm die Person, mit der er sprach, überhaupt nicht zu. »Ich habe etwas Schlimmes getan, Richard Mayhew«, flüsterte sie traurig. »Ich habe etwas sehr Schlimmes getan. Weil ich diejenige sein wollte, die das Ungeheuer tötet. Weil ich den Speer brauchte.«
    Und dann begann sie sich mühsam aufzurichten. Richard war weder klar gewesen, wie schwer sie verletzt war, noch konnte er sich jetzt vorstellen, was für Schmerzen sie haben mußte. Er sah ihren rechten Arm, aus dessen Haut auf entsetzliche Weise ein weißer Knochensplitter ragte, nutzlos herabhängen. Blut lief aus einer Wunde in ihrer Seite. Ihr Brustkorb sah verkehrt aus.
    »Hören Sie auf!« zischte er vergeblich. »Runter mit Ihnen!«
    Mit der linken Hand zog sie ein Messer aus ihrem Gürtel, legte es in ihre Rechte und schloß die Finger darum.
    »Ich habe etwas Schlimmes getan«, wiederholte sie. »Und jetzt versuche ich, es wieder gutzumachen.«
    Dann begann sie zu summen. Hoch zu summen und tief zu summen, bis sie den Ton gefunden hatte, der die Wände und die Rohre und den Raum in Schwingungen versetzte, und sie summte diesen Ton, bis es schien, als würde ihr Summen im gesamten Labyrinth widerhallen. Und dann sog sie Luft in ihren zerschmetterten Brustkorb und rief: »Hey. Dicker? Wo bist du?«
    Nichts. Kein Geräusch außer dem leisen Tropfen von Wasser. »Vielleicht ist es … weg …«, sagte Richard und umklammerte den Speer so fest, daß ihm die Hände wehtaten.
    »Das möchte ich bezweifeln«, murmelte der Marquis.
    »Na los, du Mistvieh«, stieß Hunter hervor. »Hast du etwa Angst?«
    Vor ihnen ertönte ein tiefes Grollen, und das Ungeheuer griff von neuem an.
    Diesmal durfte es keinen Fehler geben. Der Tanz, dachte Hunter. Der Tanz ist noch nicht vorbei.
    Und als das Ungeheuer auf sie zukam, die Hörner gesenkt, schrie sie: »Jetzt – Richard! Stich zu! Von unten nach oben! Jetzt!«, und dann traf das Ungeheuer sie, und ihre Worte wurden zu einem wortlosen Schrei.
    Richard sah es aus der Dunkelheit kommen, hinein in das Licht der Fackel. Es ging alles ganz langsam.
    Es war wie ein Traum.
    Es war wie alle seine Träume.
    Das Ungeheuer war so nah, daß er seinen animalischen Gestank

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