Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
derartiges Verhalten als persönlichen Verrat, und es hat mich tief verletzt. Und enttäuscht. Wenn man keine guten Seiten hat, reagiert man auf Enttäuschungen nicht besonders freundlich, nicht wahr, Mister Vandemar?«
    »Alles andere als freundlich, Mister Croup.«
    Varney preschte vor und rannte im Dunkeln holterdipolter die Wendeltreppe hinunter.
    Eine Stimme vom oberen Ende der Treppe, Mr. Croups: »Eigentlich«, sagte er, »sollten wir es als Gnadentod betrachten.«
    Das Klacken von Varneys Füßen auf dem Metallgitter hallte durch den Treppenschacht. Er schnaufte, und er keuchte, er stieß sich die Schultern an den Wänden, während er in der Finsternis blind abwärts stolperte.
    Er erreichte die unterste Stufe, neben dem Schild, das die Fahrgäste warnte, bis nach oben seien es 259 Stufen, und das sei nur etwas für gesunde Menschen. Jeder andere, stand auf dem Schild, solle den Aufzug benutzen.
    Den Aufzug?
    Etwas schepperte, die Aufzugtüren öffneten sich mit erhabener Langsamkeit, und Licht flutete den Gang.
    Varney suchte nach seinem Messer, fluchte, als ihm einfiel, daß Hunter, diese Schlampe, es noch hatte. Er griff nach der Machete in seinem Schulterhalfter.
    Sie war weg.
    Hinter sich hörte er ein höfliches Husten, und er drehte sich um.
    Mr. Vandemar saß auf den Stufen am Fuße der Wendeltreppe.
    Er war dabei, sich mit Varneys Machete die Nägel zu säubern.
    Und plötzlich fiel Mr. Croup über ihn her, mit Zähnen und Klauen und kleinen Klingen, und Varney konnte nicht einmal mehr schreien.
    »Adieu«, sagte Mr. Vandemar ungerührt, und er fuhr fort, sich die Nägel zu maniküren.
    Und dann begann das Blut zu fließen. Nasses, rotes Blut in ungeheuren Mengen, denn Varney war ein großer Mann, und er hatte all dieses Blut in sich gehabt.
    Als Mr. Croup und Mr. Vandemar fertig waren, konnte man den blassen Fleck auf dem Boden am Fuß der Wendeltreppe allerdings kaum noch erkennen.
    Nach der nächsten Bodenreinigung war er für immer verschwunden.
    Hunter marschierte voran. Door ging in der Mitte. Der Marquis de Carabas folgte als letzter. Keiner von ihnen hatte etwas gesagt, seit sie Richard vor einer halben Stunde verlassen hatten.
    Door blieb plötzlich stehen. »Das können wir nicht tun«, erklärte sie. »Wir können ihn nicht einfach dort zurücklassen. «
    »Natürlich können wir das«, sagte der Marquis. »Wir haben es bereits getan.«
    Sie schüttelte den Kopf. Seit sie Richard bei Harrods rücklings unter Ruislip am Boden liegen sehen hatte, hatte sie ein schlechtes Gewissen und kam sich dumm vor. Jetzt reichte es ihr.
    »Seien Sie nicht albern«, sagte der Marquis.
    »Er hat mir das Leben gerettet«, erklärte sie ihm. »Er hätte mich auf der Straße liegenlassen können. Aber das hat er nicht getan.«
    Der Marquis zog eine Augenbraue hoch: gleichgültig, distanziert, durch und durch sarkastisch. »Meine liebe junge Lady«, sagte er. »Wir werden auf diese Expedition keine Passagiere mitnehmen.«
    »Hören Sie auf, mich zu bevormunden, de Carabas«, sagte Door. Sie klang müde. »Ich glaube, ich kann allein entscheiden, wer mit uns kommt. Sie arbeiten doch für mich, nicht wahr? Oder ist es etwa umgekehrt?«
    Er starrte sie an, kalt und wütend. »Er kommt nicht mit«, stellte er kategorisch fest. »Außerdem ist er wahrscheinlich sowieso schon tot.«
    Richard war nicht tot. Er saß im Dunkeln auf dem Seitenvorsprung eines Siels und fragte sich, was er tun sollte, fragte sich, wie sehr er den Boden noch unter den Füßen verlieren konnte.
    Sein bisheriges Leben, fand er, hatte ihn perfekt auf einen Job im Wertpapiergeschäft vorbereitet, aufs Einkaufen im Supermarkt, aufs samstagnachmittägliche Fernsehfußballgucken und darauf, eine Heizung anzustellen, wenn ihm kalt war. Überhaupt nicht vorbereitet hatte es ihn jedoch auf ein Leben als Unperson auf den Dächern und in der Kanalisation Londons, ein Leben in Kälte, Nässe und Finsternis.
    Ein Licht flackerte. Schritte näherten sich ihm. Wenn, beschloß er, das eine Horde von Mördern, Kannibalen oder Monstern sein sollte, würde er keinen Widerstand leisten. Sollten sie doch all dem ein Ende machen; er hatte genug. Er starrte ins Dunkel hinab, dorthin, wo er seine Füße vermutete. Die Schritte kamen näher.
    »Richard?« Das war Doors Stimme.
    Er zuckte zusammen. Dann bemühte er sich, sie zu ignorieren. Alles nur deinetwegen, dachte er …
    »Richard?«
    Er sah nicht auf. »Was?« fragte er.
    »Hör zu«, sagte sie.

Weitere Kostenlose Bücher