Niemalsland
»ich will Ihnen ja keine Umstände machen oder so, aber was ist mit mir?«
Der Marquis drehte sich um und starrte ihn an, die Augen riesengroß und weiß in seinem dunklen Gesicht. »Mit Ihnen?« fragte er. »Was ist mit Ihnen?«
»Nun ja«, sagte Richard. »Wie komme ich zurück in den normalen Alltag? Es ist so, als wäre ich mitten in einem Alptraum. Letzte Woche machte alles noch einen Sinn, und jetzt macht nichts mehr einen Sinn …« Seine Stimme erstarb. Er schluckte. »Ich möchte wissen, wie ich mein Leben zurückbekomme«, erklärte er.
»Jedenfalls nicht, indem du mit uns kommst, Richard«, sagte Door. »Es wird so schon schwer genug für dich werden. Es … es tut mir wirklich leid.«
Hunter kniete vor ihnen auf dem Gehweg nieder. Sie nahm einen kleinen Metallgegenstand aus ihrem Gürtel und schloß damit einen Gullydeckel auf. Sie zog den Deckel hoch, schaute vorsorglich in die Tiefe, stieg hinab und dirigierte dann Door in die Kanalisation hinunter.
Door schaute Richard nicht an, als sie behende und geschmeidig abwärts kletterte.
Der Marquis kratzte sich am Nasenflügel. »Junger Mann«, sagte er, »es gibt zwei Londons. Ober-London – dort haben Sie gelebt –, und dann gibt es noch Unter-London – die Unterseite –, bewohnt von den Menschen, die durchs Netz gerutscht sind. Zu denen gehören Sie jetzt. Gute Nacht.«
Er begann, die Leiter zum Siel hinunterzuklettern. Richard sagte: »Moment mal!« und erwischte den Gullydeckel, bevor er sich schließen konnte. Er folgte dem Marquis hinab.
Im oberen Teil des Siels roch es nach Kloake – ein toter, seifiger Kohlgeruch. Er erwartete, daß der Gestank schlimmer würde, je tiefer er käme, doch statt dessen verflüchtigte er sich rasch.
Graues Wasser floß seicht, aber schnell am Boden des Backsteintunnels entlang.
Richard stieg hinein. Vor sich sah er die Lichter der anderen, und er watete durch den Tunnel, bis er sie eingeholt hatte.
»Gehen Sie weg«, sagte der Marquis.
»Nein«, erwiderte er.
Door schaute zu ihm empor. »Es tut mir wirklich leid, Richard«, erklärte sie.
Der Marquis trat zwischen sie. »Sie können nicht mehr zurück zu Ihrer alten Wohnung oder Ihrer alten Stellung oder Ihrem alten Leben«, sagte er beinahe sanft. »Nichts davon existiert. Sie existieren dort oben nicht.« Sie hatten eine Kreuzung erreicht, an der drei Tunnel aufeinanderstießen. Door und Hunter gingen, ohne sich umzuschauen, in den hinein, der kein Wasser führte. Der Marquis blieb stehen.
»Sie müssen eben das Beste draus machen«, sagte er zu Richard, »hier unten in der Kanalisation und der Magie und der Finsternis.« Und dann grinste er breit: »Tja – war mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen. Viel Glück. Wenn Sie die nächsten ein oder zwei Tage überleben, halten Sie vielleicht sogar einen ganzen Monat durch.«
Und damit drehte er sich um und marschierte das Siel hinunter.
Richard lehnte sich gegen eine Wand und lauschte auf den Hall der sich entfernenden Schritte und das Rauschen des vorbeifließenden Wassers, das zu den Wasserwerken und Kläranlagen Ost-Londons unterwegs war.
»Scheiße«, sagte er.
Und dann begann Richard Mayhew zu seiner Überraschung erstmals seit dem Tod seines Vaters, allein, in der Finsternis, zu weinen.
Die U-Bahn-Haltestelle war ganz leer und ganz dunkel. Varney hielt sich dicht an der Wand und schaute nervös nach hinten, nach vorn und von einer Seite zur anderen.
Er war ganz zufällig hier gelandet, nachdem er über die Dächer und durch die Schatten geflüchtet war, um sicherzugehen, daß ihm niemand folgte. Er wollte nicht zurück in seine Höhle in den tiefen Tunneln von Camden Town. Zu riskant. Es gab noch andere Orte, an denen Varney Waffen und Lebensmittel versteckt hatte. Er würde eine Weile untertauchen. Bis all dies vergessen war.
Neben einem Fahrkartenautomaten hielt er inne und lauschte in die Dunkelheit.
Absolute Stille. Offenbar war er allein. Endlich konnte er sich eine Verschnaufpause gönnen. Er blieb am oberen Ende der Wendeltreppe stehen und holte tief Luft.
Eine Stimme neben ihm, so schmierig wie Motoröl, säuselte: »Varney ist der beste Bravo und Beschützer der Unterseite. Das weiß doch jeder. Mister Varney hat es uns selbst gesagt.«
Auf Varneys anderer Seite antwortete eine Stimme milde: »Er hat gelogen, Mister Croup. Und so etwas tut man nicht.« In der pechschwarzen Finsternis fuhr Mr. Croup fort: »Allerdings nicht, Mister Vandemar. Ich muß sagen, ich betrachte ein
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