Niemalsland
kleinen Tunnel geschlafen, der, wie Door sagte, früher zur Regency-Kanalisation gehört hat. Die Leibwächterin war wach, als ich eingeschlafen bin, und sie war wach, als sie mich geweckt haben. Ich glaube nicht, daß sie jemals schläft. Zum Frühstück gab es Topfkuchen; der Marquis hatte ein großes Stück in der Tasche. Wieso hat jemand ein großes Stück Topfkuchen in der Tasche? Meine Schuhe sind fast völlig getrocknet, während ich geschlafen habe.
Ich will nach Hause.
Dann unterstrich er im Geiste den letzten Satz dreimal, schrieb ihn in riesigen Buchstaben mit roter Tinte noch einmal und kreiste ihn ein, bevor er auf seinem imaginären Seitenrand mehrere Ausrufezeichen danebensetzte.
Wenigstens war der Tunnel, den sie jetzt entlanggingen, trocken. Es war ein High-Tech-Tunnel: lauter silbrige Rohre und weiße Wände.
Der Marquis und Door schritten zusammen voraus. Richard blieb meistens ein paar Schritte hinter ihnen. Hunter war mal hier, mal dort. Manchmal ging sie hinter ihnen, manchmal auf der linken oder rechten Seite, oft verschmolz sie ein kleines Stück vor ihnen mit den Schatten. Sie bewegte sich völlig geräuschlos, was Richard ziemlich beunruhigend fand.
Vor ihnen war ein Lichtstreifen zu sehen.
»Na also«, sagte der Marquis. »U-Bahn-Haltestelle Bank. Guter Ort, um mit der Suche zu beginnen.«
»Sie sind ja nicht ganz dicht«, sagte Richard. Das war nicht für die Ohren der anderen bestimmt, doch egal, mit welch sotto voce man sprach, in dieser Finsternis war alles laut und deutlich zu hören.
»Tatsächlich?« sagte der Marquis.
Der Boden begann zu grollen: eine U-Bahn, irgendwo ganz in der Nähe.
»Richard, laß gut sein«, sagte Door.
Doch da kam es schon aus seinem Mund: »Na ja«, sagte er. »Ihr seid doch wirklich albern. Es gibt keine Engel.«
Der Marquis nickte und sagte: »Ah. Ja. Jetzt verstehe ich Sie. Es gibt keine Engel. Ebenso, wie es kein Unter-London gibt, keine Rattensprecher und keine Schäfer in Shepherd’s Bush.«
»Es gibt keine Schäfer in Shepherd’s Bush«, stellte Richard kategorisch fest.
»Doch«, sagte Hunter aus der Dunkelheit gleich neben Richards Ohr. »Beten Sie darum, daß sie Ihnen nie begegnen. « Es klang so, als sei das ihr voller Ernst.
»Also«, sagte Richard. »Ich glaube trotzdem nicht, daß hier unten massenweise Engel herumlaufen.«
»Tun sie auch nicht«, erklärte der Marquis. »Nur einer. « Sie hatten das Ende des Tunnels erreicht. Vor ihnen befand sich eine verschlossene Tür. Der Marquis trat zurück. »Mylady?« sagte er zu Door.
Sie legte einen Moment lang ihre Hand darauf. Die Tür öffnete sich lautlos.
»Vielleicht«, beharrte Richard, »reden wir von unterschiedlichen Dingen. Wenn ich Engel sage, meine ich Flügel, Heiligenscheine, Trompeten, Friede-auf-Erden-undden-Menschen-ein-Wohlgefallen. «
»Stimmt«, sagte Door. »Genau. So sind Engel.«
Sie gingen durch die Tür.
Richard schloß unwillkürlich die Augen. So viel Licht: Es durchbohrte seinen Kopf wie eine Migräne. Als seine Augen sich an die strahlende Helle gewöhnt hatten, stellte Richard fest, daß er sich in dem langen Fußgängertunnel befand, der die Haltestellen Monument und Bank miteinander verbindet. Pendler liefen durch die Tunnel, und keiner würdigte die vier auch nur eines Blickes.
Das aufdringliche Wimmern eines Saxophons hallte durch den Tunnel: ›I’ll Never Fall In Love Again‹ von Burt Bacharach und Hal David, halbwegs gekonnt gespielt.
Richard kämpfte gegen den Drang an, mitzusummen. Sie bewegten sich auf die Haltestelle Bank zu.
»Wen suchen wir noch mal?« fragte er, mehr oder weniger unschuldig. »Den Engel Gabriel? Raphael? Michael?«
Sie passierten einen U-Bahn-Plan. Der Marquis tippte auf die Station Angel: »Islington.«
Richard wechselte das Thema. »Wissen Sie, als ich vor ein paar Tagen in eine U-Bahn einsteigen wollte, hat sie mich nicht reingelassen.«
»Sie müssen denen nur klarmachen, wer das Sagen hat, das ist alles«, sagte Hunter hinter ihm sanft.
Door kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Diese hier wird uns reinlassen«, sagte sie. »Wenn wir sie finden.«
What do you get if you fall in love?
Get enough germs to catch pneumonia.
And after you do, she’ll never phone ya …
Sie gingen ein paar Stufen hinunter und bogen um eine Ecke.
Der Saxophonspieler hatte seinen Mantel auf dem Tunnelboden vor sich ausgebreitet. Auf dem Mantel lagen ein paar Münzen, die aussahen, als hätte er sie selbst dort
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