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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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hingelegt, um die Passanten davon zu überzeugen, daß jeder ihm etwas gab.
    Niemand fiel darauf herein.
    Der Saxophonspieler war außerordentlich groß; er hatte schulterlanges dunkles Haar und einen langen, gegabelten Bart, der tiefliegende Augen und eine hervorstechende Nase einrahmte. Er trug ein zerfetztes T-Shirt und ölfleckige Blue Jeans.
    Als die Reisenden bei ihm ankamen, hörte er auf zu spielen, schüttelte den Speichel aus dem Mundstück, steckte es wieder auf und fing an, den alten Julie-London-Song ›Cry Me A River‹ zu spielen.
    Now, you say you’re sorry …
     
    Richard bemerkte zu seiner Überraschung, daß der Mann sie sehen konnte – und daß er alles daransetzte, so zu tun, als sähe er sie nicht. Der Marquis blieb vor ihm stehen. Das Wimmern des Saxophons erstarb mit nervösen Zuckungen. Ein kaltes Grinsen ließ die Zähne des Marquis aufblitzen.
    »Sie sind Lear, nicht wahr?« fragte er.
    Der Mann nickte argwöhnisch. Seine Finger streichelten die Klappen seines Saxophons.
    »Wir suchen Earl’s Court«, fuhr der Marquis fort. »Haben Sie vielleicht einen Fahrplan dabei?«
    Lear befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze. »Wäre möglich. Wenn ja, was spränge für mich dabei raus?«
    Der Marquis steckte die Hände tief in seine Manteltaschen. Dann lächelte er wie eine Katze, der man gerade den Schlüssel eines Heims für verwahrloste, aber fette Kanarienvögel anvertraut hatte.
    »Es heißt«, sagte er träge, als würde er nur die Zeit totschlagen, »daß Blaise, Merlins Meister, einmal eine Melodie geschrieben hat, die so berückend ist, daß sie jedem, der sie hört, das Kleingeld aus den Taschen zaubert.«
    Lears Augen verengten sich. »Das wäre mehr wert als nur einen Fahrplan«, sagte er. »Vorausgesetzt, diese Melodie ist wirklich in Ihrem Besitz.«
    Der Marquis tat sehr überzeugend so, als würde ihm gerade klar: Himmel, da hat er recht! »Tja«, sagte er großmütig, »ich schätze, in dem Fall würden Sie mir etwas schulden, nicht wahr?«
    Lear nickte, langsam, widerstrebend. Er faßte in seine Gesäßtasche und zog einen vielfach gefalteten Papierfetzen hervor und hielt ihn hoch.
    Der Marquis griff danach. Lear zog die Hand weg. »Lassen Sie mich erst die Melodie hören, Sie alter Gauner«, sagte er. »Und ich hoffe für Sie, daß sie funktioniert. «
    Der Marquis zog eine Augenbraue hoch. Seine Hand schnellte in eine der Innentaschen seines Mantels; als er sie wieder herauszog, waren eine Blechflöte und eine kleine Kristallkugel darin. Er schaute die Kristallkugel an, machte »hmmm«, als wolle er sagen: »Ach, da ist die gelandet«, und steckte sie wieder weg. Dann krümmte er die Finger, setzte die Flöte an die Lippen und begann zu spielen.
    Es war eine seltsame, übermütige, Purzelbäume schlagende Weise. Sie gab Richard das Gefühl, er sei wieder dreizehn Jahre alt und hörte in der Schulpause die Top Twenty im Kofferradio seines besten Freundes, damals, als Popmusik noch die Rolle spielte, die sie nur in der Teenagerzeit spielen kann: Diese Melodie hatte alles, was er jemals in einem Musikstück hören wollte …
    Eine Handvoll Münzen klirrte auf Lears Mantel. Der Marquis ließ die Flöte sinken.
    »Dann schulde ich Ihnen wohl etwas, Sie alter Schurke«, sagte Lear.
    »Ja. Das tun Sie.« Der Marquis nahm Lear den Zettel – den Fahrplan – aus der Hand, überflog ihn und nickte. »Und noch ein guter Rat: Übertreiben Sie es nicht. Sie ist sehr ergiebig.«
    Und die vier gingen fort, den langen Korridor entlang, an den Wänden lauter Plakate, die für Filme und Unterwäsche warben, und hier und da ein offiziell aussehender Zettel, der Straßenmusikanten verscheuchen sollte, und sie lauschten dem Schluchzen des Saxophons und dem Geräusch von Geld, das auf dem Mantel landete.
    Der Marquis führte sie zu einem Bahnsteig der Central Line. Richard ging zum Bahnsteigrand und sah hinab. Er fragte sich, wie immer, welche Schiene wohl unter Strom stand; und dann ertappte er sich dabei, wie er unwillkürlich eine winzige graue Maus anlächelte, die mutig über die Gleise pirschte, auf der stillen Suche nach weggeworfenen Sandwiches und heruntergefallenen Kartoffelchips.
    »Treten Sie zurück«, sagte Hunter beschwörend zu Richard. »Stellen Sie sich dort hinten hin. An die Wand.«
    »Was?« fragte Richard.
    »Ich sagte«, sagte Hunter, »treten Sie – «
    Und da brach es plötzlich über den Bahnsteig herein. Es war durchscheinend, traumgleich, ein geisterhaftes Etwas,

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