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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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abgewetzten Flanellpyjama auf einer Art ergonomischem Hocker.
    »Der sieht nicht sonderlich bequem aus«, sagte ich mit einem Seitenblick auf das Sitzmöbel.
    »Den habe ich mir auf Empfehlung meines Life Coachs zugelegt. Richte deinen Körper neu aus, bevor du deinen Geist neu ausrichtest, so was in der Richtung.«
    Ich blieb stehen und inspizierte den Schreibtisch, der von Zetteln und Post-its übersät war. Neben der Tastatur lag ein weißes Blatt Papier mit einer Bleistiftskizze. Ich nahm es in die Hand und sah es mir genauer an. Die Skizze zeigte mein altes Haus. Dort am Fensterrahmen im ersten Stock hing das Vogelhäuschen.
    »Bitte«, sagte Thorpe. »Was kann ich tun, um es wiedergutzumachen? Was muss ich sagen, damit wir wieder Freunde sind?«
    Er roch nach Zigaretten. Beinahe tat er mir leid. Ich wusste,
wie sehr er sich bemüht hatte, damit aufzuhören. Was, wenn mein Arzt mir sagen würde, ich müsste den Kaffee aufgeben? Ich war mir ziemlich sicher, dass ich das nicht könnte.
    »Du hattest unrecht mit Billy Boudreaux«, sagte ich.
    Thorpe zog eine Augenbraue hoch. Alles an ihm sah heute Nacht buschiger aus. Seine Haare, sein Bart, die Augenbrauen. Er hatte zugenommen seit unserer letzten Begegnung. An seiner Frisur war auch etwas verändert. Am Haaransatz verliefen winzige Follikelpunkte, wo er vorher kahl gewesen war.
    Er lächelte kaum merklich. »Inwiefern?«
    »Er hätte doch eine gute Figur abgegeben.«
    »Hast du ihn getroffen?« Thorpe wirkte etwas überrascht.
    »Ja.« Ich erzählte ihm nicht, dass das über zwanzig Jahre her war. Oder dass er in der Zwischenzeit Selbstmord begangen hatte. Ich wollte ihm eigentlich überhaupt nichts erzählen. Ich konnte schon seinen Buchtitel vor mir sehen: Musik und Manie: das Leben des Billy Boudreaux . Als ich in der Absicht zu Thorpes Haus fuhr, ihn wegen seiner Lügen zur Rede zu stellen, war ich nicht sicher gewesen, was ich zu ihm sagen würde, wenn ich vor ihm stünde. Doch nun durchschaute ich ein Element meiner eigenen Motivation, das mir vorher nicht klar gewesen war. Ich war hier, um mir selbst zu beweisen, dass ich wenigstens ein Mal die Oberhand hatte. Ich würde Thorpe gar nichts erzählen - nicht, wer Lila getötet hatte, oder warum. Er verdiente es nicht, diese Information so einfach präsentiert zu bekommen. Er konnte darüber lesen, genau wie jeder andere. Ich wusste genau, wer mit dieser Story umgehen könnte.
    »Du hättest ihn wirklich in das Buch aufnehmen sollen«, sagte ich. »Und Steve Strachman auch. Und den Hausmeister, James Wheeler. Don Carroll, sie alle.«

    »Falsche Fährten«, sagte Thorpe und lächelte, als wartete er auf meine Bestätigung. »Falsche Fährten, richtig?«
    »Mag sein, aber jeder einzelne von ihnen hätte, wenn du nur genau genug hingesehen hättest, Stoff für ein Kapitel abgegeben. Heute fiel mir etwas ein, was du mir einmal gesagt hast, als wir im Unterricht Am Abgrund des Lebens lasen.«
    »Und zwar?«
    »Wir sprachen über Pinkie, diese goldenen Kronen auf den roten Polsterstühlen in seinem Hotel. Ein Student meldete sich und fragte, warum Graham Greene sich so viel Mühe mit Pinkie gebe, wenn er doch nur eine Nebenfigur sei. Und du erklärtest, für ein richtig gutes Buch genüge es nicht, die Hauptfiguren auszuarbeiten. Auch die anderen müssten ausgeprägt sein. Wenn der Leser das Buch zuklappt, sollte er sich nicht nur an den Protagonisten und seinen Gegenspieler erinnern, sondern auch an jeden anderen, der über die Seiten spaziert.«
    Thorpe hob die Hand und betastete die Pünktchen auf seiner Stirn, als wäre ihm gerade wieder eingefallen, dass sie da sind. »Das habe ich gesagt?«
    »Denn das mache das Leben aus, sagtest du. Es gehe nicht nur um die Hauptfiguren und großen Ereignisse. Es gehe um jeden, um alles, um das Zwischendrin.«
    »Ja«, meinte er. »Das kommt mir bekannt vor.«
    »Glaubst du das immer noch?«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es je geglaubt habe. Vielleicht habe ich das nur so dahingesagt, um die Stunde rumzukriegen.«
    »Tja, auf dem Weg hierher habe ich darüber nachgedacht. Und während es wahrscheinlich in Bezug auf Bücher stimmt, glaube ich nicht, dass es auch auf das echte Leben zutrifft. Ich bin jetzt fast vierzig, und die Menschen, die wirklich eine Rolle gespielt haben, kann ich an zwei Händen abzählen.«

    »Wer ist das?«, fragte er.
    »Lila natürlich. Meine Eltern. Peter McConnell. Henry.« Ich zögerte. »Du.«
    »Ich?«
    »Ich war gerade mal zwanzig

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