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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Jahre alt, als ich dein Buch las«, sagte ich. »Und ich glaubte jedes Wort davon. Du schriebst die Geschichte meines Lebens, bevor ich eine Chance hatte, es zu leben. Du hast behauptet, ich sei orientierungslos, aber woher hättest du das wissen können? Ich war noch so jung. Aber ich dachte, du wärest so klug, ich dachte, du kennst die Antworten. Niemand hatte mich je so genau erforscht wie du, niemand hatte je so ein starkes Interesse gezeigt. Ich glaubte, du hättest in mein Innerstes geblickt und könntest besser als jeder andere erkennen, wer ich war. Das war meinerseits nicht sehr klug. Ich weiß, dass mich ebenso viel Schuld trifft wie dich - oder sogar noch mehr -, aber ich wurde zu dieser Figur.«
    »Ich habe auch geschrieben, dass du intelligent bist«, sagte Thorpe. »Und schön. Ich schrieb, du seist leidenschaftlich.«
    »Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.«
    »Es steht drin.«
    »Du nanntest Lila ›die gute Tochter‹.«
    »Ja, aber ich nannte dich nicht die schlechte Tochter.«
    »Das war nicht nötig.«
    Thorpe warf einen Blick auf die Uhr an der Wand, dann wandte er sich von mir ab und sah aus dem Fenster. Ich folgte seinem Blick. Kurz darauf stellte sich jemand vor das Fenster meines alten Zimmers. Die Jalousie ging herunter, das Licht verlosch.
    Thorpe stand auf und drückte auf den Schalter, Licht durchflutete sein Arbeitszimmer.
    »Entschuldige«, sagte er und sah mich über die Schulter an.
    »Was?«
    »Sie macht jede Nacht um exakt diese Zeit das Licht aus und lässt die Jalousie herunter. Viertel vor eins. Ich könnte meine Uhr danach stellen. Unmittelbar darauf schalte ich mein Licht an. Es ist ein Spiel von mir. Ich bilde mir gern ein, dass sie bemerkt, wie mein Licht angeht - als hätten wir es choreografiert, eine stille Form der Kommunikation. Jeden Morgen um fünf Minuten nach sieben zieht sie die Jalousie hoch. Außer sonntags. Sonntags schon um halb sieben, dann tritt sie um Viertel nach sieben aus der Tür und läuft den Hügel hinunter zu St. Paul’s. Unter der Woche sieht sie immer sehr gestylt aus - geschmackvolle schwarze Kleider, schwarze Stiefel, elegante Schals. Aber sonntags auf dem Weg zum Gottesdienst trägt sie einen schlecht sitzenden gelben Mantel. Jede Woche, ohne Ausnahme, egal bei welchem Wetter.«
    »Vielleicht ist es in der Kirche kalt«, sagte ich.
    »Genau.«
    »Bist du ihr dorthin gefolgt?«
    »Es ist eine Kirche. Jede Seele ist dort willkommen, oder nicht? Ich war nur neugierig. Sie lebt allein, und ich hatte die Vorstellung, dass sie auch im Gottesdienst allein ist. Stimmt aber nicht. Sie trifft dort einen Kerl, einen Mann, der humpelt, und sie sitzen zusammen in der letzten Reihe.«
    »Was hast du sonst noch über sie herausgefunden? Geburtsdatum? Lieblingsfarbe? Erster Liebeskummer?«
    »Das ist es ja«, sagte er. »Das muss ich nicht. Sie ist die Hauptfigur in meinem Roman. Ich darf mir das ganze Zeug ausdenken.«
    »Nehmen wir mal an, sie liest das Buch eines Tages«, sagte ich.
    »Das sind jetzt aber Vorschusslorbeeren. Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich es überhaupt veröffentlicht bekomme. Vielleicht
möchte niemand einen Roman von einem Sachbuchautor lesen, erst recht keine Liebesgeschichte.«
    »Es ist eine Liebesgeschichte?«
    »Ja. Ich habe das ewige Blut satt. Ich möchte über etwas Schönes schreiben. Etwas, das ich selbst erlebt habe. Diese ganzen Bücher über Morde - da bin ich ein Außenseiter, kein Beteiligter.«
    »Und was ist mit Aller guten Dinge sind zwei ? Das war doch eine Liebesgeschichte.«
    »Das Buch war ebenso sehr eine Farce wie meine Ehe. Nein, dieses Mal geht es um wahre Liebe. Nicht um Sex, sondern um etwas Tieferes. Die Art von Liebe, die sogar weiterbesteht, wenn sie nicht erwidert wird, die ein Leben lang anhalten kann, selbst wenn sie einseitig bleibt. Tragische Liebe, wenn du so willst.«
    »Manch einer würde das als Besessenheit bezeichnen, nicht als Liebe.«
    Sein linkes Auge zuckte. Es war nur eine winzig kleine Bewegung, aber ich wusste, ich hatte ihn getroffen. Dieses eine Mal waren es meine Worte, die schmerzten. Überrascht stellte ich fest, dass ich keinerlei Befriedigung empfand. Ich hätte es gern zurückgenommen. Vielleicht ist es das, was Bücher so gefährlich macht; das Gesagte ist dauerhaft, unauslöschlich.
    »Die Frau, die in eurem alten Haus lebt«, sagte Thorpe. »Ich habe sie Klavier spielen, Gäste bewirten, zur Kirche gehen sehen, aber nicht ein einziges Mal habe ich sie lesen gesehen.

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