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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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es nicht nur um die Hauptfiguren und großen Ereignisse. Es geht um jeden, um alles, um das Zwischendrin.
    Würde ich mich in dreißig Jahren an Jesus auf der Kaffeeplantage erinnern, an Maria aus dem Café in Diriomo, an meinen Chef Mike? Mit achtunddreißig konnte ich mich nur noch der Namen von drei oder vier Lehrern entsinnen, die ich in meinem Leben gehabt hatte, und es waren nicht zwangsläufig die besten, die mir im Gedächtnis haften geblieben waren. An Mrs. Smith aus dem Kindergarten erinnerte ich mich nur noch, weil sie mit offenem Mund Kaugummi kaute, an die gemeine Mrs. Johnson aus der dritten Klasse, weil ihre Kleider auf der Rückseite ihrer dicken Beine immer zu hoch rutschten, an meine Turnlehrerin aus der Siebten, weil sie mich einmal vor meinen Klassenkameraden blamiert hatte, als ich einen hohen Baseball im Feld nicht gefangen hatte. Ich erinnerte mich noch an die Männer, mit denen ich geschlafen hatte, aber nur dem Namen nach; darüber hinaus
hatte ich die meisten Einzelheiten vergessen. Doch ich wusste, dass Thorpe mir für immer im Gedächtnis bliebe, genau wie McConnell und Frank Boudreaux.
    Ich wünschte mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen und Lila diese Frage stellen. Ihre kurze Geschichte bestand hauptsächlich aus meinen Eltern, mir und Peter McConnell. Hätte sie Billy Boudreaux, bevor sie ihm an jenem Abend in die Arme lief, überhaupt auf ihre persönliche Liste bedeutsamer Menschen aufgenommen? Das kam mir eher unwahrscheinlich vor.
    Während ich von der Clipper Street aus die Castro Street überquerte, ertappte ich mich schon wieder beim Gedanken an Thorpe. Das ganze Gespräch über hatte ich das Gefühl gehabt, dass er noch etwas anderes sagen wollte. Ich ließ ihn nicht, weil ich bereits zu wissen glaubte, was es war - etwas über mich, über uns. Aber nun, allein im Auto, ging mir durch den Kopf, dass es sich vielleicht um etwas völlig anderes handelte.
    »Falsche Fährten«, hatte er gesagt, »richtig?« Und davor hatte er, als ich Billy Boudreaux’ Namen erstmals erwähnte, kaum merklich gelächelt. War es möglich, dass er die ganze Zeit mehr gewusst hatte, als er verriet?
    Mir fiel die erste Adresse wieder ein, die Thorpe mir frühmorgens in seiner Garage gegeben hatte - der unschuldige Hausmeister, der seine restlichen Tage in seinem bescheidenen Häuschen in Bernal Heights verlebte. Wusste Thorpe, dass dieser Name nirgendwohin führen würde? Danach aber waren es Boudreaux und Strachman. Bedankte sich Thorpe bei mir dafür, jedes Mal wiederzukommen? Bedankte er sich bei mir, dass ich ihm eine zweite Chance gab? Ich war diejenige, die sich auf die Suche gemacht hatte, aber Thorpe hatte mir das Werkzeug dazu an die Hand gegeben.

    Er war immer noch Thorpe. Und doch fiel es mir schwer, mir selbst einzugestehen, dass er sich, auf eine grundlegende Art und Weise, verändert hatte. Zwanzig Jahre waren vergangen. Immer hatte ich geglaubt, dass Menschen sich nur in Büchern ändern, nicht im realen Leben. Aber hier war Thorpe - ein lebendiger Mensch aus Fleisch und Blut, der etwas tat, dessen ich ihn niemals für fähig gehalten hätte. Nach all dieser Zeit war es ihm gelungen, mich zu überraschen.

39
    ES WAR OKTOBER, das Ende der Regenzeit, und Diriomo war kühl und nass, der ganze Ort eingehüllt von Orchideen. Ich war an einem Dienstagmorgen nach einem ereignislosen Nachtflug und einer holprigen Busfahrt von Managua angekommen und hatte mich in meinem üblichen Hotel eingemietet. An diesem Nachmittag würde ich in der Kooperative einige neue Kaffeeproben verkosten. Für Jesus’ Kinder hatte ich Geschenke dabei - ein liebevoll illustriertes Vogelbuch für Rosa, ein buntes Malset für Angel. Doch vorher wollte ich noch jemandem einen Besuch abstatten.
    Ich zog mir ein Sommerkleid und Sandalen an und machte mich zu Fuß auf den Weg. Auf dem improvisierten Baseballplatz spielten Kinder mit Stöcken und einem alten Tennisball. Bald stand ich vor der vertrauten Tür, zog an der vertrauten Kupferglocke. Ich hörte ein Schlurfen, und Maria erschien, das graue Haar in einem langen, geflochtenen Zopf über eine Schulter gelegt und mit einer gelben Schleife zusammengebunden.
    »Willkommen«, begrüßte sie mich mit einem Lächeln. Das Café roch noch genau wie vor drei Monaten, als Peter McConnell an meinen Tisch getreten war und gesagt hatte: »Wissen Sie, wer ich bin?« Damals wie heute hing die salzigüppige Würze von bratendem Schweinefleisch in der Luft,
das tiefe Aroma von

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