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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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dachte an diese Fahrt über die Golden Gate Bridge mitten in der Nacht. Als Kinder schmiegten Lila und ich uns auf dem Rücksitz aneinander, während der Wagen über die Brücke holperte, und wir bestaunten den Nebel draußen, der im Schein der Brückenbeleuchtung so gespenstisch aussah. Normalerweise fuhren wir freitagabends los zur Hütte, und die letzte halbe Stunde Fahrt über dunkle, gewundene Straßen hatte mir immer Angst gemacht. Ich glaubte, dass jederzeit etwas aus den Mammutbäumen vor uns auf den Weg springen könnte - ein Hirsch oder der schwarze Mann -, aber Lila bemühte sich immer, mir die Furcht zu nehmen, indem sie mir sagte, dass Hirsche Scheinwerfern aus dem Weg gingen und der schwarze Mann nur ein Kinderschreck aus Abzählreimen sei.
    Frank fuhr fort: »Lila wurde immer nervöser. Sie fing an, ihn anzuschreien, verlangte, dass er sofort anhielt und sie aussteigen ließ, aber vergeblich. Sie wurde panisch, und er redete immer nur auf sie ein, sie solle sich beruhigen. Schließlich, auf dem bewaldeten Abschnitt einer zweispurigen Straße gleich hinter Korbel, sprang sie aus dem Auto.

    Will sagte, es passierte so schnell, dass er sie nicht aufhalten konnte. Er hielt sofort am Seitenstreifen an, rannte die Böschung runter und fand sie dort, regungslos. Er erkannte schlagartig, wie dumm sein Plan gewesen war, was für einen Riesenfehler er gemacht hatte. ›Sie brauchte doch keine Angst vor mir zu haben‹, sagte Will zu mir, was nur beweist, wie löchrig sein Gehirn inzwischen war, vielleicht von all den Drogen, ich weiß es nicht. Ich meine, er wusste, dass er ihr nichts tun würde, und er erwartete von ihr, dass sie das auch verstand.«
    Und ich dachte an Lila, die rationale Lila. Wie sie ihre Optionen abgewägt haben musste, während sie mit ihrem Kidnapper im Auto saß. Wie sie ihre Chance, einen Sturz und eine Flucht zu überleben, berechnet haben musste, im Gegensatz zu dem, was passieren könnte, wenn sie es nicht wagte. Wenige Stunden zuvor hatte sie mit Peter McConnell im Restaurant gesessen, völlig verstrickt in das Drama ihrer Beziehung. Vielleicht hatte sie da noch gedacht, dass sie nicht ertragen konnte, was mit ihr geschah, dass sie nicht damit umgehen konnte, in einen verheirateten Mann verliebt zu sein. Und dann musste sie alles neu kalkulieren. Dort im Auto mit William wünschte sie sich möglicherweise in das profane Drama ihrer Beziehung zurück. Oder sie traf eine Entscheidung darüber, was sie tun würde, wenn sie unversehrt wieder nach Hause käme - vielleicht beschloss sie, sich von McConnell zu trennen, ganz neu anzufangen. Oder aber sie dachte über die Goldbachsche Vermutung nach, das Problem, das sie noch zu lösen hatte, den Beweis, den zu finden sie fest entschlossen war. Und dann sprang sie. Auf eine gewisse Art war das vollkommen einleuchtend. Lila war immerhin ein Mensch der Tat. Für sie wäre sich zurückzulehnen und einfach abzuwarten, jemand anderem die Kontrolle
über ihr Schicksal zu überlassen, keine Option gewesen.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Frank.
    Ich saß vornübergebeugt da, zitternd. Auf dem Teppich war ein weißer Fleck in der Größe eines Vierteldollars. Ich konzentrierte mich auf den Fleck und sagte: »Erzählen Sie weiter.«
    »Sie lag neben einem großen, scharfkantigen Stein, und auf dem Stein war Blut, und Will begriff, dass sie sich den Kopf angeschlagen hatte. Er hörte sie nicht atmen, also legte er sein Ohr auf ihre Brust. Als er immer noch nichts hörte, riss er ihr die Bluse auf, um ihrem Herzschlag zu lauschen, doch da war immer noch kein Laut. Er versuchte Mund-zu-Mund-Beatmung. Er wusste nicht genau, wie das ging, er ahmte nur nach, was er im Fernsehen gesehen hatte. Er hielt ihr Handgelenk hoch und fühlte nach einem Puls. Zehn, fünfzehn Minuten lang saß er dort bei ihr, versuchte, sie wiederzubeleben. ›Aber ich konnte nichts für sie tun‹, erzählte er mir. Und beim Reden weinte er immer noch, umklammerte noch immer diese Kette. Schließlich hob er Lila hoch und trug sie zum Auto.«
    Ich erinnerte mich an Thorpes Beschreibung ihrer Leiche. Bekleidet, aber die Bluse offen, die obersten vier Knöpfe abgerissen. Dass die Knöpfe nicht am Fundort entdeckt wurden, deutete darauf hin, dass der eigentliche Tatort woanders lag, aber niemand fand je heraus, wo. Thorpe hatte die Sache mit den Knöpfen einfach außer Acht gelassen. Laut seinem Szenario war sie an dem Ort gestorben, an dem sie unter Laub versteckt gefunden

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