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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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wurde.
    »Bevor er sie ins Auto legte«, sagte Frank, »breitete er eine Decke über den Sitz. Das ist etwas, was ich ihm nie ganz verziehen habe. Bei allem, was sonst noch geschah, komme
ich immer wieder auf die Decke zurück. Denn das bedeutet, dass er kein Blut im Auto wollte. Lila lag tot da, und er besaß trotzdem noch die Geistesgegenwart, seine Spuren zu verwischen.
    Es waren keine anderen Autos auf der Landstraße unterwegs. Er war in Panik, er wusste nicht, was tun. Sein erster Gedanke war, sie ins Krankenhaus zu bringen. Doch dann bemerkte er das Blut an seinen Händen, auf seinen Kleidern. Er malte sich aus, was passieren würde, wenn er dort ankäme, wie sie ihn einer schrecklichen Tat beschuldigen würden, wo er doch nie die Absicht hatte, ihr wehzutun. Also fuhr er stattdessen weiter nach Armstrong Woods, trug sie in den Wald und legte sie behutsam auf den Boden, als schliefe sie. Dann saß er dort und betrachtete sie und entdeckte die Kette. Er hatte das Gefühl, etwas mitnehmen zu müssen, um sich zu beweisen, dass das Ganze real war. Denn er war sich nicht hundertprozentig sicher, ob das alles nicht nur eine furchtbare Halluzination war, ein schlechter Trip. Nachdem er Lila dort zurückgelassen hatte, fuhr er zum Johnson’s Beach, wickelte seine Klamotten in mehrere Tüten und warf sie in einen Müllcontainer. Er wusch sich im Fluss, dann brachte er ihren Rucksack nach Healdsburg und deponierte ihn in einer Mülltonne hinter einem Restaurant. Seine Kleider und ihre Leiche sollten so weit wie möglich voneinander entfernt sein. Anschließend fuhr er zu uns, weil das der einzige Ort war, der ihm einfiel, und so fand ich ihn am frühen Morgen auf meiner Schwelle.«
    Ich saß schweigend da, fassungslos. Alles an dieser Geschichte war so anders als das, woran ich so lange geglaubt hatte. In dieser Version gab es keine Niedertracht, kein vorsätzliches Verbrechen. Sondern nur eine zufällige Begegnung in einem U-Bahnhof mit einem Junkie, gefolgt von einer
stümperhaften Entführung und einem schrecklichen Unfall. Der Fehler, den Lila begangen hatte, war letztendlich völlig unabhängig von McConnell. Ihr Fehler war gewesen, dem Falschen zu vertrauen, sich darauf zu verlassen, dass die Menschen im Allgemeinen gut waren. Endlich gelang es mir, zu fragen: »Woher wissen Sie, dass er die Wahrheit gesagt hat?«
    »Ich weiß es einfach«, sagte Frank. »Mein Bruder hatte eine Menge Probleme, aber er hätte ihr nie absichtlich wehgetan. Das hätte er einfach nicht gekonnt.«
    »Warum haben Sie nichts gesagt? Sie wussten doch, was er getan hatte. Sie hätten zur Polizei gehen müssen.«
    Frank starrte auf seine Hände. »Das hatte ich vor, ehrlich. Ich sagte zu Will, er müsse sich stellen. Ich versprach, ihn zu begleiten. Ich sagte ihm, wenn er sich nicht stellte, würde ihn das Ganze irgendwann einholen. Ich drohte ihm sogar damit, dass ich ihn anzeigen würde, wenn er es nicht selbst täte. So eine Sache kann man doch nicht ewig verbergen. Ich hatte ihn vor vielem bewahrt, aber davor konnte ich ihn nicht beschützen. Er weigerte sich. Meinte, er hätte schon in vielen miesen Löchern gewohnt, aber wo er mit Sicherheit nicht klarkäme, wäre der Knast. Zwei Tage nach seiner Beichte fand Tally ihn tot im Auto. Und in dem Moment brachte ich es einfach nicht über mich, zur Polizei zu gehen. Ich erkundigte mich über den Fall - Ihre Schwester war zu dem Zeitpunkt schon vierzehn Jahre tot. Ich wusste, dass niemand verhaftet worden war. Es war also nicht so, als schmorte irgendein Unschuldiger im Gefängnis und bezahlte für Wills Verbrechen. Ich fühlte mich schuldig an Wills Selbstmord. Hätte ich ihn nicht so unter Druck gesetzt, sich zu stellen, hätte er sich wahrscheinlich nicht das Leben genommen.«
    »Das können Sie nicht wissen«, sagte ich.

    »Nein, aber ich werde mich das immer fragen. Außerdem gab es ja sonst nichts mehr, was ich für ihn tun konnte, außer, seinen Namen aus der Zeitung zu halten.«
    Genau das hatte ich für Lila nicht tun können. Ich war wütend auf Frank, dass er sein Geheimnis all die Jahre über bewahrt hatte. Hätte er damals öffentlich gemacht, was Will ihm gestanden hatte, dann hätte das meiner Familie sechs weitere Jahre Ungewissheit erspart, McConnell möglicherweise sechs weitere Jahre Exil. Und doch empfand ich auch Mitgefühl mit ihm. Ich konnte seine Beweggründe nachvollziehen. Er hatte einen Bruder verloren, ich eine Schwester. Er konnte vermutlich besser als die

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