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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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meisten verstehen, was in meinem Leben geschehen war.
    Dann rückte Frank näher, legte beide Arme um mich und murmelte: »Ich weiß - es tut mir so leid.« Es war surreal, in den Armen dieses Mannes, an diesem Ort zu sein, das Rätsel um Lilas Tod aufgedeckt. Mir fiel auf, dass sein Hemd nass war, und dann begriff ich, warum er mich umarmte. Ich weinte und konnte nicht aufhören.
    Ich dachte an Lila an jenem letzten Morgen, sie hatte den Zweig auf der Terrasse bemerkt, aber wir hatten nichts unternommen. Ich dachte an die Nacht in unserem Garten, als wir nach dem Sternbild Lyra Ausschau hielten und sie mir die Geschichte von Orpheus erzählte, der seine Frau nicht aus dem Totenreich zurückholen konnte. Ich dachte daran, wer sie gewesen war - meine wunderschöne, intelligente, verschlossene Schwester - und wer sie hätte sein können, wäre sie am Leben geblieben. Und ich dachte an meine Eltern, die sich jeder für sich durch ein Leben mit nur einer Tochter kämpften, statt mit zweien. Diese ganzen Jahre hatte ich ihnen so wenig geben können. Jetzt endlich konnte ich ihnen wenigstens diese Geschichte geben.

    Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit verstrich, bis mein Atem wieder leichter ging. Das Licht im Raum veränderte sich, und im oberen Stock wurde ein Wasserhahn aufgedreht, die alten Rohre im Haus begannen zu klappern. Schließlich ließ Frank mich los. Es war ein merkwürdig peinlicher Moment, beide zogen wir uns aus dieser unerwarteten Nähe zurück. Ich wollte etwas zu ihm sagen, doch mir fiel nichts ein. Ein oder zwei Minuten lang saßen wir da und wichen beide dem Blick des anderen aus. Er war es, der das Schweigen brach.
    »Seit er gestorben ist, hoffe ich, dass seine Musik eines Tages wieder aus der Versenkung auftaucht. Irgendein DJ wird sie auf irgendeinem Radiosender spielen oder ein Journalist für eine Zeitschrift darüber schreiben, und die Leute werden an ihn erinnert werden und seine Lieder wieder hören. Ich möchte nur, dass er als Billy Boudreaux im Gedächtnis bleibt, der großartige Musik gemacht hat.«
    »Sie sollten ihn hören«, sagte ich. »Es ist ein wunderschöner Song.«
    Er ging zum Kassettenrekorder und drückte auf »Play«. Billy Boudreaux’ Stimme klang rau und heiser, sie wurde stärker, je länger das Stück dauerte.
    Deep in the trees I’m on my knees
Looking at you and not believing
What have I done, my beautiful one
What have I done
    Als das Lied vorbei war, sah ich zu Frank auf. Er hatte nicht einmal das Gesicht abgewandt. Er stand einfach nur neben dem Kassettenrekorder, einen Arm auf dem Kaminsims, und starrte auf einen Punkt an der Wand, seine Tränen flossen lautlos.

38
    THORPE SAH MEIN SPIEGELBILD im Fenster, bevor er mich sah. Er schrak auf, wandte sich zu mir um. Die einzige Lichtquelle im Raum war der Computerbildschirm. In dem matten Schein wirkte er blass und etwas kränklich.
    »Wie bist du …«
    »Ich habe geklopft, aber du hast nicht aufgemacht. Die Haustür war unverschlossen, also …«
    Sein Gesichtsaudruck wechselte von erschrocken zu hoffnungsvoll. »Ich lasse dir einen Schlüssel nachmachen. Du kannst kommen und gehen, wie du willst. Einfach nur zu wissen, dass du jeden Moment auftauchen kannst, würde mich motivieren. Ich säße mitten in der Nacht hier am Schreibtisch …«
    »Das wollte ich dich noch fragen - warum schreibst du eigentlich nachts?«
    »Dann denke ich klarer.«
    »Verstehe.«
    »Wie gesagt, ich werde hier in meinem Arbeitszimmer sitzen, mir meinen nächsten Satz abquälen und dann deinen Schlüssel im Schloss hören. Ich stehe nicht auf, du musst nicht einmal herkommen, um Hallo zu sagen. Aber ich höre dich unten herumlaufen, dir in der Küche etwas zu essen machen, ein Buch aus dem Regal ziehen. Vielleicht kann ich sogar
hören, wie du die Seiten umblätterst. Und beim Schreiben wirst du mir als idealer Leser vorschweben. Die Worte, die ich zu Papier bringe, werden alle an dich gerichtet sein. Vor ewigen Zeiten erklärte mir ein Dozent, dass man immer an das Publikum denken müsse. Ich habe nie genau verstanden, was er damit meinte. Woher soll man wissen, wer das Publikum sein wird?«
    »Ich bin es wahrscheinlich nicht«, sagte ich.
    »Wie bitte?«
    »Dein Publikum.«
    »Du könntest es sein.«
    »Ich ziehe Belletristik vor - schon vergessen?«
    »Da hast du Glück. Mit meinem Roman geht es gut voran. Wer weiß, vielleicht gefällt er dir.« Thorpe deutete auf den Schreibtischstuhl. »Setz dich doch.« Er selbst kauerte in einem

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