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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Falls es mir gelingt, den Roman zu veröffentlichen, geht er möglicherweise sang- und klanglos unter. Aber selbst wenn er durch ein Wunder alle Hürden überspringt und ein Erfolg wird, dann möchte ich behaupten, die Chance, dass sie ihn liest, ist nur sehr gering.«

    »Nur mal rein theoretisch, was wenn doch? Wird sie sich erkennen?«
    Thorpe drehte sich zu mir um, die Hände in den Taschen. Er setzte sich wieder auf seinen kleinen Hocker. »Es gibt da etwas, was ich dir schon lange erzählen wollte. Ich habe immer auf eine perfekte Gelegenheit gewartet, es in die Unterhaltung einzuflechten, aber die wollte sich nie so einstellen.«
    Ich konnte mir nicht vorstellen, was jetzt noch käme, und stellte plötzlich fest, dass ich endlich bereit war, mit alldem abzuschließen. Wenn ich durch diese Tür ginge, würde ich niemals zurückkehren, dessen war ich mir sicher. Ab jetzt neue Kapitel, neue Handlung, meine Geschichte.
    »Es gibt da jemanden in L. A.«, erzählte Thorpe, »Wade Williams. Er war noch auf dem College, als er das Buch zum ersten Mal las, aber jetzt ist er ein wichtiger Hollywoodproduzent. Er möchte eine Filmadaption von Lilas Geschichte drehen.«
    Ich wusste, was jetzt kam. In der Literatur haben Figuren die Angewohnheit, bis zum letzten Kapitel bedeutende Transformationen zu durchlaufen. Aber in der Realität verändern sich die meisten Menschen nicht wesentlich. Man kann sie konfrontieren, womit man will, sie bleiben in jeder wirklich bedeutsamen Hinsicht gleich. Ich wandte mich zum Gehen.
    »Warte.« Thorpe legte mir eine Hand auf den Arm. »Seit ich zu schreiben anfing, war es ein Traum von mir, eines meiner Bücher auf die Leinwand zu bringen.«
    Ich stand schon in der Tür, mit dem Rücken zu ihm. Im Flur hing ein eigenartiger Geruch - wieder diese Vanillekerzen.
    »Ich stand schon kurz davor, den Deal abzuschließen«, sagte Thorpe. »Aber dann kamst du. Und ich habe abgelehnt.«
    Ich blieb stehen, verharrte dort einen Moment lang. Dann
drehte ich mich zu ihm um. Ich musste ihm ins Gesicht sehen, um herauszufinden, ob er die Wahrheit sagte.
    »Wie auch immer«, sagte er, »du sollst nur wissen, dass es diesen Film nicht geben wird. Und ich werde nicht mehr über das Buch sprechen. Alle wollen immer darüber reden, wenn ich auf Veranstaltungen bin - immer nur über dieses eine, nie über die anderen. Seit Ewigkeiten nährt sich mein Ego aus diesem Buch. Aber das ist jetzt für mich vorbei.«
    Ich lehnte mich an den Türrahmen. Durch die Wand gegenüber verlief ein Riss in einer krummen Diagonale von der Decke über die halbe Wand und endete irgendwo hinter dem Schreibtisch. Jedes Gebäude in San Francisco hatte solche Risse. Das Haus, in dem ich aufwuchs, hatte auch welche. Jedes Mal, wenn es ein Erdbeben gab, machte meine Mutter hinterher einen Rundgang und suchte Wände und Fußböden nach neuen verräterischen Linien ab. Als Kind war ich überzeugt davon, dass das Haus eines Tages einen so großen Riss bekäme, dass es nicht mehr stehen bleiben könnte; es würde einfach auseinanderfallen.
    »Warum?«, fragte ich Thorpe.
    »Als ich das Buch schrieb, wollte ich dir nicht wehtun. Ich hatte einen Tunnelblick. Alles, was ich sah, war meine Chance, mein Weg aus der Uni hin zu dem, was ich mir so sehr wünschte, dass ich es schon schmecken konnte. Ich wollte so unbedingt ein Schriftsteller sein, dass ich alles andere darüber vergaß. Das ist also, vermute ich mal, meine Art, mich zu entschuldigen. Zugegeben, es kommt vielleicht zu spät. Aber es ist mir ernst, Ellie. Es tut mir aufrichtig leid. Das wollte ich dir sagen.«
    »Danke.«
    Er sah mich an, als hätte er noch mehr zu sagen. Ich war ihm dankbar, dass er es nicht tat.

    Er begleitete mich nach unten. Über dem Kamin hing das Munkácsi-Foto, von dem er mir erzählt hatte - zwei Männer auf einer dunklen Straße, im Kampf ineinander verkeilt. Das Foto war brutal und doch gleichzeitig irgendwie schön, voller Leben.
    Im Eingang kam mir etwas neu vor - die Stille. Im trüben Licht der Straßenlaterne, das durch das Fenster fiel, konnte ich erkennen, dass der Springbrunnen leer war, jemand hatte ihn sauber geschrubbt. Thorpe öffnete mir die Tür. Gerade als ich einen Fuß hinaussetzte, nahm er meine Hand, zog mich an sich. Ich sträubte mich nicht. Ich ließ mich von ihm umarmen, und ein oder zwei Sekunden lang erwiderte ich den Druck.
    Im Auto dachte ich wieder an das, was Thorpe vor all den Jahren im Unterricht gesagt hatte. Im Leben geht

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